Ver­wirk­li­chung und Übersetzung

Śrīla Bhak­ti­pra­j­ñāna Keśava Gos­vāmī Mahārāja instru­ierte Śrīla Guru­deva, den Ruhm Kṛṣṇas und der Vra­ja­vāsīs zu ver­breiten, indem er die Schriften der Gos­vāmīs ins Hindi über­setzte. Das erste Buch, das Ācārya Kesarī über­setzt und ver­öf­fent­licht haben wollte, war das Jaiva Dharma Bhak­ti­vi­noda Ṭhā­kuras. Śrīla Guru­deva hatte das Jaiva Dharma viele Male gelesen. Trotzdem zögerte er mit der Über­set­zung. Er dachte: „Es nur zu über­setzen, reicht nicht. Ich habe die tiefen Wahr­heiten des Jaiva Dharmas nicht ver­wirk­licht. Wenn ich ohne Ver­wirk­li­chung über­setze, bin ich wie ein Dieb, der gestoh­lenes Gut als sein Eigentum ansieht.“

Als Ācārya Kesarī das nächste Mal Mathurā besuchte, bat ihn Śrīla Guru­deva: „Guru Mahārāja, du hast mich ange­wiesen, das Jaiva Dharma ins Hindi zu über­setzen. Bitte gewähre mir die Ver­wirk­li­chung der Lehren dieser hei­ligen Schrift, damit meine Über­set­zung die Herzen der Leser berühren kann. In den ersten Kapi­teln wird San­nyāsī Ṭhā­kura von seinem Guru­deva seine ewige Form als Dienst­magd Śrī­matī Rād­hikās offen­bart. Solange mir meine spi­ri­tu­elle Iden­tität nicht offenbar ist, wie kann dann meine Über­set­zung jemand anderem helfen? Ich lese nur Worte und Sätze. Ein Meer spi­ri­tu­ellen Wis­sens ruht in diesen Seiten, aber wie bekomme ich Zugang dazu? Ich mag das Wort ‚Chili‘ hören, aber es bedeutet nichts für mich, solange ich es nicht geko­stet habe. Jemand kann mir erklären, dass es scharf ist und mir meinen Mund ver­brennt, aber ich werde es nur dann wirk­lich wissen, wenn ich Chili zwi­schen meinen Zähnen zerbeiße.“

Du hast mich in die Ecke gedrängt,“ ant­wor­tete Ācārya Kesarī. „Ich habe noch nie­manden getroffen, der so wie du seinen Guru fängt und her­um­be­kommt ‒ wie ein Kind, dass am Rock­zipfel seines Vaters zieht. Jetzt muss ich dir spi­ri­tu­elle Ver­wirk­li­chung geben. Ich kenne keinen, der einen solch starken Wunsch danach hat wie du. Komm morgen früh, nachdem du deine Gāyatrī-Man­tras gechantet hast.“

Dies ist die wahre Bezie­hung zwi­schen Guru und Schüler. Jemand mit welt­li­cher Sicht sieht bloß die äußere Klei­dung und Form des Gurus, aber nicht seine tran­szen­den­tale Gestalt. Nur wenn wir unsere getrennten Inter­essen auf­geben, können wir unserem spi­ri­tu­ellen Mei­ster nahe­kommen und ihn wahr­haft kennen. Ein neu­ge­bo­renes Kälb­chen bekommt unein­ge­schränkt Milch von seiner Mutter. Das kleine Kälb­chen kennt aus­schließ­lich seine Mutter. Es bleibt immer in ihrer Nähe und will nicht einmal Gras fressen oder Wasser trinken. Wenn ein Schüler in glei­cher Weise unbe­irrbar seinem spi­ri­tu­ellen Mei­ster ergeben ist, ohne selbsti­sche Wün­sche oder Hin­ter­ge­danken, wird das Herz des Gurus schmelzen und er wird diesem vom Glück begün­stigten Schüler tran­szen­den­tales Wissen schenken.

Am näch­sten Morgen badete Śrīla Guru­deva, trug tilaka auf, und chan­tete seine gāyatrī-Man­tras. Er brachte Ācārya Kesarī langaus­ge­streckte Ehr­erbie­tungen dar und setzte sich demütig bei seinen Füßen nieder. Wie ein Vater, der zunei­gungs­voll seinen Sohn unter­weist, offen­barte Ācārya Kesarī Śrīla Guru­deva die Wahr­heiten des Jaiva Dharmas.

Ācārya Kesarī sprach: „Beides, die Ergeb­nisse guten wie auch schlechten Karmas, ver­stricken einen in fal­sche mate­ri­elle Bezeich­nungen. Sie sind Hin­der­nisse auf dem Pfad der Hin­gabe und der Selbst­ver­wirk­li­chung. Sie sind wie dicke Schichten von Dun­kel­heit, die das Wissen der Seele bedecken. Sie können nur durch die spi­ri­tu­elle Praxis unter der Füh­rung des Gurus ent­fernt werden.“

Śrīla Guru­deva hörte auf­merksam zu, wie Ācārya Kesarī eine Geschichte erzählte, die diesen Punkt illu­strierte: Einmal kam ein alter Bandit, der sein Leben lang Men­schen gepie­sackt hatte, zu einem bekannten Tempel, um bei einem Guru Zuflucht zu suchen. Er bat um Ein­wei­hung, um bha­jana aus­führen und von seinem men­talen Leid frei werden zu können, das er ver­spürte, weil er so viel gesün­digt hatte.

Der Guru fragte: „Wirst du meinen Anwei­sungen folgen?“

Ja, ich werde alles tun, was Sie sagen.“

Der Guru gab dem Mann ein Mantra und wies ihn an: „Setz dich vor die Tür dieses Tem­pels, chante das Mantra und ver­neige dich vor jedem, der vorbeigeht.“

Ja, Guru­deva, das werde ich tun. Aber muss ich mich wirk­lich vor jedem ver­neigen, der vor­bei­geht? Auch vor denen aus einer nie­deren Kaste?“

Ja, du musst.“ Der Guru war ent­schieden. Der Mann setzte sich vor die Tür des Tem­pels und ver­neigte sich vor jedem, der kam. In der Ver­gan­gen­heit hatte er die Ein­wohner der Stadt drang­sa­liert. Jetzt aber ver­spot­teten und belei­digte ihn die Leute, die zum Tempel kamen: „He alter Kater! Hun­derte Mäuse hast du in deinem Leben gefressen. Nun bist du wohl zu alt zum Jagen? Jetzt fallen dir die Zähne aus und du kannst nicht mehr ver­dauen. Des­halb gibst du dich als Mönch aus, der Vege­ta­rier wurde, und bet­telst Almosen von denen, die du früher drang­sa­liert hast.“

Der Dieb konnte seinen Zorn nur schwer zügeln, aber weil ihn sein Guru ange­wiesen hatte, sich vor jedem zu ver­neigen, beherrschte er sich und folgte der Anwei­sung. Jeder machte sich über ihn lustig: „He Bābājī! Oh großer Mahārāja!“ Sie bespuckten und belei­digten ihn. Kinder bewarfen ihm mit Schmutz oder taten Müll in seine Betel­schale. Obwohl er wütend war, ver­barg er dies und erwies weiter jedem, der zum Tempel kam, seine Ehrerbietungen.

Nach dem ersten Tag des Spottes fühlte er sich so elend, dass er zu seinem Guru sagte: „Ich kann nicht so sitzen bleiben. Früher fürch­teten sie mich wie den Tod. Heute waren sie wie die Fliegen. Sie bespuckten und belei­digten mich. Wie kann ich das ertragen?“

Wessen Schüler bist du?“, fragte ihn sein Guru. „Bist du Schüler deines Zornes, dieser Leute oder mein Schüler?“

Ich bin Ihr Schüler“.

Warum nimmst du dann ihr Mantra an? Warum hörst du zu und iden­ti­fi­zierst dich mit dem, was sie sagen? Morgen musst du wieder dein Mantra am Tem­peltor chanten und allen Respekt erweisen, die hineinkommen.“

Ja, Guru­deva.“

Am näch­sten Tag saß er wieder vor dem Ein­gang des Tem­pels. Er berührte demütig die Füße von jedem, der den Tempel ver­ließ. Manche stießen ihn fort oder traten ihn, andere bespuckten oder bewarfen ihn mit Müll oder gam­me­ligen Früchten. Wieder kam er abends zu seinem Guru­deva und sagte: „Ich kann nicht mehr!“

Warum nicht? Wo liegt das Pro­blem? Bist du ein Sādhu oder ein Tier?“ Auf die wie­der­holte Anwei­sung seines Gurus hin ertrug der Mann alle Schmähungen.

Drei Monate ver­gingen auf diese Weise. Langsam änderte sich die Ein­stel­lung der Leute. Sie begannen ihn zu preisen: „Dieser Guru ist ein­zig­artig. Wie ein Cintāmaṇī-Stein, der alles, was er berührt, in Gold ver­wan­delt, hat er diesen Dieb in einen Sādhu umge­wan­delt. Wir pro­vo­zieren ihn, aber er wird nicht zornig und rächt sich nicht.“ Die Leute fingen an, ihn zu achten und zu beschenken.

Eines Abends fragte der Guru: „Früher bist du jeden Tag mit Beschwerden zu mir gekommen, jetzt aber schweigst du. Was ist geschehen?“

Guru­deva, es gibt keine Pro­bleme mehr. Jetzt bin ich von Ihnen gesegnet worden.“

Was hat sich verändert?“

Sehen Sie nur, was für einen schönen Umhang mir ein Besu­cher geschenkt hat. Jeden Tag kommen Leute und bringen mir Speisen, Blu­men­gir­landen oder tragen San­del­holz­paste auf meine Stirn auf.“

Oh! Jetzt trinkst du Gift!“

Nein Guru­deva, früher habe ich Gift geschluckt. Jetzt trinke ich Nektar.“

Im Gegen­teil. Zuvor gaben sie dir Nektar. Sie befreiten dich durch ihre Belei­di­gungen von all deinen Sünden, Ver­gehen und Wün­schen. Jetzt laden sie dir ihr schlechtes Karma und ihr Sünden auf. Du hältst diese Geschenke für Blu­men­gir­landen. Du ver­stehst nicht, dass du dir im Grunde gif­tige Schlangen um den Hals hängst. Das ist viel gefähr­li­cher als ihre Beleidigungen.“

Was soll ich tun?“ fragte der Schüler beunruhigt.

Zuvor“, sagte der Guru, „brach­test du alle Belei­di­gungen, die du bekommen hast, mir. Aber jetzt, wo du ver­ehrt und beschenkt wirst, bleibst du still. Nimm nichts unab­hängig für dich. Bring alles zuerst zu mir.“

Ja, Guru­deva.“

Von da an gab er jeden Abend die Spenden, die er erhalten hatte, seinem Guru. „Du bringst mir die Spenden,“ sagte der Guru, „aber was ist mit dem Lob, dass sie dir zuteil­werden lassen? Du erzählst mir nicht, was sie zu dir sagen.“

Sie ver­herr­li­chen mich, Guru­deva. Sie bitten mich: ‚Segne mein Kind. Hilf meinem Sohn, einen guten Job zu bekommen. Segne meine Tochter mit einem guten Mann.‘“

Was tust du dann?“

Guru­deva, gestern kam jemand, der von einem Geist besessen war. Er hat gezit­tert und sich erbro­chen. Ich habe Ihren Namen gechantet und hei­liges Wasser auf seinen Kopf und in seinen Mund gespren­kelt. Bald ging es ihm besser.“

Ach, wirk­lich? Bist du jetzt ein Ācārya geworden? Nun bist du kein Schüler mehr, son­dern hältst dich für einen Guru? Du hast nicht die Kraft, die Sünden der Leute zu ver­dauen. Jetzt wirst du wirk­lich leiden.“

Der Mann flehte: „Guru­deva, ich werde es nicht wieder tun.“

Die­je­nigen, die dich belei­digten, haben deine Sünden von dir genommen. Jetzt aber nehmen sie dir dein frommes Gut­haben. Beides behin­dert deinen spi­ri­tu­ellen Fort­schritt. Erst wenn dein Herz von beidem frei ist, dann wird das Mantra, das ich dir gab, seine Wir­kung ent­falten. Dann kannst du die Gott­heit des Man­tras ver­wirk­li­chen. Sei geduldig und achte weiter jeden, aber knüpfe keine Bekannt­schaften mit diesen mate­ria­li­sti­schen Leuten. Sei gewarnt. Sonst kannst du nie Voll­kom­men­heit erlangen.“

Fortan ver­tiefte sich der Schüler in bha­jana und wurde nach vielen Jahren selbst­ver­wirk­licht. Ein Guru hat die Kraft, alle Hin­der­nisse auf dem Pfad zur Voll­kom­men­heit zu besei­tigen. Aber der Schüler muss sich auf­richtig dem Guru ergeben. Er muss von der mate­ri­ellen Welt los­ge­löst sein und nur nach lie­be­voller Anhaf­tung zur Höch­sten Person streben. Dann wird er Gurus Gnade erfahren können.

Als er diese Geschichte ver­nahm, ergriff Śrīla Guru­deva die Hand Ācārya Kes­arīs und betete: „Ich möchte nur reine bhakti. Was nützt es, ein brah­macārī oder san­nyāsī im Tempel zu sein, wenn man nicht die Seele oder Bha­gavān verwirklicht?“

Dar­aufhin erläu­terte Ācārya Kesarī Śrīla Guru­deva für einen Monat lang jeden Tag das Jaiva Dharma. Er schenkte Śrīla Guru­deva unmit­tel­bare Ver­wirk­li­chung seiner ewigen Gestalt und seines ewigen Dien­stes. Ein echter Guru besitzt diese Kraft. Guru­deva begann dann das Jaiva Dharma ins Hindi zu über­setzen und Ācārya Kesarī war mit seinem Dienst sehr zufrieden. Er sagte zu Śrīla Guru­deva: „Deine Über­set­zungen sind dank deiner spi­ri­tu­ellen Ver­wirk­li­chung für die ganze Welt segensreich.“

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