So wie ein Schauspieler seine Kleider und Rollen wechselt, wechseln wir während unseres Lebens unsere Rollen. Das Kind denkt: „Ich bin klein und möchte spielen.“ Später möchten wir lernen, dann arbeiten, heiraten und eine Familie gründen. In jedem Lebensabschnitt haben wir andere Wünsche und Selbstwahrnehmungen. Doch worin besteht das eigentliche Selbst, das „Ich“, das sich nicht wandelt? Bestehen wir als Lebewesen nur aus Knochen, Fleisch und Blut? Oder wird der Körper durch eine Seele bewegt?
Auch die Wissenschaft hat sich diese Frage gestellt. Im 19. Jahrhundert versuchte beispielsweise der Pathologe Rudolf Virchow (gest. 1902), die Seele mit einem Mikroskop im Körper von Verstorbenen zu finden. Als ihm dies nicht gelang, erklärte er: „Ich habe so viele Leichen seziert und nie eine Seele gefunden“, und schlussfolgerte, dass es so etwas wie die Seele nicht gibt.
Nach Ansicht der Veden gibt es die Seele sehr wohl, allerdings wird man sie nicht mit materiellen Instrumenten sehen, denn materielle Sinne können nur materielle Objekte wahrnehmen, die Seele hingegen ist spirituell. Die Seele besteht nicht aus materiellen Elementen wie Wasser, Feuer, Erde, Luft oder Äther. Sie besteht aus einer spirituellen Substanz, die nicht von dieser Welt ist.
ataḥ śrī‑kṛṣṇa nāmādi / na bhavet grāhyam indriyaiḥ
sevonmukhe hi jihvādau / svayam eva sphuraty adaḥ
(Padma Purana)
Spirituelle Dinge wie den Namen, die Gestalt, Eigenschaften und Taten Gottes (Kṛṣṇas) kann das bedingte Lebewesen mit seinen materiellen Sinnen nicht wahrnehmen. Nur diejenigen, die ihre Sinne und ihren Geist durch das Gebet und das Dienen geläutert haben, können die transzendentalen Namen, Form, Eigenschaften und Spiele des Herrn erkennen. Die Transzendenz wird sich einem Menschen, der eine dienende Haltung dem Herrn gegenüber besitzt, aus eigener Barmherzigkeit manifestieren.
Es ist nicht einfach, Gott und Seine Schöpfung zu verstehen, da diese sich jenseits der Sinneswahrnehmung befinden. Wenn man aber die materiellen Sinne, allen voran die Zunge, in Gottes Dienst beschäftigt, werden einem die Wahrheiten über die spirituelle Natur offenbart, denn es ist die Diensthaltung, die uns befähigt, dies zu verstehen. Es gibt drei Stufen der Verwirklichung der spirituellen Seele:
āścarya-vat paśyati kaścid enam
āścarya-vad vadati tathaiva cānyaḥ
āścarya-vac cainam anyaḥ śṛṇoti
śrutvāpy enam veda na caiva kaścit
(Bhagavad-Gīta 2.29)
Einige sehen die Seele als wunderbar, einige beschreiben sie als wunderbar, andere hören, sie sei wunderbar, und wieder andere haben kein Vertrauen in die Seele, selbst nachdem sie über sie gehört haben.
Die Seele kann einfach erkannt werden, wenn wir den Vedischen Schriften wie der Bhagavad-Gīta folgen. Diese beleuchten die Wahrheiten über die Seele mit der Fackel des Wissens. Sie sind Wegweiser, die uns beraten, wie wir zu unserem Ziel gelangen können. Das Ziel jedes Lebewesens, mag es Mensch, Tier oder Pflanze sein, besteht darin, glücklich zu werden. Jeder strebt nach Glück, denn die Seele ist aus Glück gemacht. Die Natur der Seele ist sat-cit-ānanda: ewig, voller Wissen und glückselig. Diejenigen, die vollkommenes Wissen und spirituelle Verwicklichung erlangt haben, beschreiben die Seele so, wie sie auch in der Bhagavad-Gīta von Śrī Kṛṣṇa geschildert wird:
„Es gab niemals eine Zeit, als du oder Ich nicht existiert haben, und es wird niemals in der Zukunft einer von uns aufhören, zu existieren.
So wie die Seele ihren gegenwärtigen Körper annimmt und sich diesen Körper fortan zu einem Kinderkörper, einem Jugendlichen und schließlich zum Greisenkörper entwickelt, das Selbst, die Seele, dabei aber unverändert bleibt, so wird sich die Seele auch beim Wechseln des Körpers nicht verändern.
Diejenigen, die die Wahrheit erkannt und das Wesen beider gründlich studiert haben, wissen, dass der materielle Körper vergeht und die Seele bestehen bleibt.
Wisse: Das, was den Körper durchdringt und belebt, ist die Seele. Sie ist unzerstörbar und unvergänglich. Im Gegensatz dazu ist es dem Körper bestimmt, zu zerfallen. Die Seele wird nicht geboren und stirbt nicht. Sie ist ewig und urerst. Wenn der Körper stirbt, lebt die Seele weiter. So wie man alte Kleider ablegt und neue anzieht, so wechselt die Seele alte und unbrauchbare Körper gegen neue aus.
Keiner kann die Seele töten; sie kann nicht von Waffen zerschnitten, von Feuer verbrannt, von Wasser benetzt oder vom Wind verdorrt werden. Sie ist unzerbrechlich, unauflöslich, immerwährend, überall gegenwärtig, unwandelbar und ewiglich dieselbe. Sie ist unsichtbar, unbegreiflich und unwandelbar. Wer dies weiß, sollte nicht um den Körper trauern.
Denn jemandem, der geboren wurde, ist es bestimmt zu sterben, und jemandem, der gestorben ist, ist die Geburt sicher. Deshalb sollte man seinen Pflichten ohne Klagen nachgehen.
Man braucht auch nicht um irgendein Geschöpf zu trauern. Alle Lebewesen sind am Anfang unmanifestiert, in ihrem Zwischenzustand manifestiert, und, wenn sie vernichtet werden, wieder unmanifestiert. Die atomisch kleine Seele ist im Körper eines riesigen Tieres gegenwärtig, aber auch in winzigen Bakterien. Menschen dagegen, die nicht enthaltsam leben, können die Wunder der spirituellen Realität nicht verstehen, selbst wenn sie darüber von großen Heiligen hören.
Um Zugang zur spirituellen Wissenschaft zu finden, muss man sich von Sinnenbefriedigung lösen und spirituell verwirklichten Persönlichkeiten dienen. Nur durch ihre Barmherzigkeit ist es möglich, spirituelles Wissen im Herzen zu erwecken.“
In der Chandogya Upaniṣad findet man in diesem Zusammenhang eine lehrreiche Geschichte:
Zu Beginn des goldenen Zeitalters, vor Millionen von Jahren, wurden die Lebewesen in zwei Gruppen eingeteilt – in Halbgötter und Dämonen. Der Führer der Dämonen war König Virocana und der Führer der Halbgötter war König Indra. Beide bemühten sich um ihr eigenes Glück und waren Rivalen und einander missgesinnt.
Eines Tages kamen beide zum Vater des Universums, Śrī Brahmā und fragten ihn, wie sie sich ihre Wünsche erfüllen könnten. Brahmā antwortete: „Man kann nur glücklich werden, wenn man sich als Seele erkennt. Denn die Seele ist frei von Sünde, Alter und Tod, frei von Sorgen, Hunger und allen materiellen Wünschen.“
„Wie können wir die Seele erkennen?“ fragten sie.
„Um die Seele zu verwirklichen, solltet ihr in meinem āśrama für 32 Jahre im Zölibat leben“, antwortete Brahmā.
Dies taten sie und nach 32 Jahren, in denen sie ihrem Lehrer Brahmā dienten, baten sie ihn, mehr über die Seele zu offenbaren.
„Nehmt ein Bad, kleidet euch in neue Kleider, legt schönen Schmuck an und geht dann zum See und schaut auf euer Spiegelbild im Wasser. Dann kommt zu mir und berichtet, was ihr gesehen habt.“
Sie folgten seine Anweisung. Nachdem sie zu Brahmā zurückgekehrt waren, fragte er: „Was habt ihr gesehen?“
„Wir sahen zwei Könige, die sauber, strahlend und stark, schön bekleidet und geschmückt waren, sie haben uns auf vollkommene Weise reflektiert.“
„Dies war eure Seele, die euch furchtlos anschaute“, sagte Brahmā.
Als sie dies vernahmen, wurden sie im Herzen froh und gingen nach Hause.
König Virocana, der die Wohnstätte der Dämonen erreichte, rief alle Dämonen zu sich und erklärte: „Derjenige, der seinen Körper wie die Seele ehrt, der wird glücklich werden, in diesem und in dem nächsten Leben. Alle seine Wünsche werden erfüllt.“
König Indra hingegen, während er nach Hause ging, dachte über Brahmās Worte nach: „Dieser Körper wird geboren, unterliegt Veränderungen wie Krankheiten, dem Altern und dem Tod. Wie kann es sein, dass dies die ewige Seele ist, die doch nie geboren wird, nie stirbt und furchtlos ist?“
Er kehrte auf halbem Weg um, ging zu Brahmā zurück und äußerte seine Zweifel. Brahmā wies ihn an, für weitere 32 Jahre bei ihm im Zölibat zu leben und beschrieb ihm danach die Seele als die Person, die man im Traum wahrnimmt.
Indradeva verließ seinen Lehrer mit friedvollem Herzen, doch sein Frieden hielt nicht lange an, denn auf dem Heimweg dachte er tiefer darüber nach: „Angenommen, ich werde im Traum geschlagen oder sogar getötet, ich weine und habe Angst. Wenn ich dann aufwache, hört die Person des Traumes auf, zu existieren. Es kann also nicht sein, daß die Person im Traum die Seele ist.“
Wieder kehrte er zu Brahmā zurück. Nachdem er für weitere 32 Jahre im Zölibat gelebt hatte, erhielt er von Brahmā diese Lehren: „Die Seele wird im Tiefschlaf verstanden, wenn man nicht mehr träumt.“
Indra überlegte sich auf dem Heimweg: „Im Tiefschlaf sieht man weder jemanden, noch versteht man, wer man ist. Dieser Zustand gleicht einem Nichtexistieren.“
Also kam er erneut zurück. Im Brahmās āśrama verbrachte er weitere 5 Jahre im Zölibat und erhielt schließlich die Unterweisung: „Indra, der grobe physische Körper, der irgendwann stirbt, ist nur ein Wohnsitz der Seele. Die Seele ist mit dem Körper verbunden wie ein Pferd, welches in einen Wagen eingespannt ist. Eigentlich ist es die Person, die Seele, die sich wünscht, zu sehen, zu sprechen und zu hören. Ihren Wünschen gemäß bekommt sie Werkzeuge – Augen, Zunge, Ohren – und den Geist, der es ihr ermöglicht, die Objekte wahrzunehmen und zu denken. So wie eine Erdnuss von drei Schalen bedeckt ist, so ist auch die Seele von drei Schichten oder Körpern bedeckt:
- vom groben Körper, der aus fünf materiellen Elementen besteht (Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther),
- vom subtilen Körper, der aus drei materiellen Elementen besteht (Geist, Intelligenz und falschem Ego), und
- vom reinem ursprunglichen Körper, der aus drei spirituellen Elementen besteht(sat-cit-ānanda)
Jeder dieser Körper besitzt seine eigene Natur und Funktion. Die zwei materiellen Körper sind vergänglich und auch ihre Funktion ist zeitweilig. Die Seele dagegen ist ewig und immerwährend, die zeitweiligen Funktionen des Körpers betreffen nicht die Seele. Die Seele ist von einen anderen Natur oder Berufung, welche den Vedischen Schriften nitya-dharma genannt wird.“
Im Caitanya-Caritāmṛta (Madhya 20.108) wird beschrieben:
jīvera ’svarūpa’ haya‑kṛṣṇera ’nitya-dāsa’
kṛṣṇera ’taṭasthā śakti’ ’bhedābheda-prakāśa’
Die Natur der Seele ist es, ewiger Diener Kṛṣṇas zu sein. Als eine Erweiterung Seiner Energie ist die Seele gleichzeitig eins und verschieden vom Herrn, genau wie ein Funke vom Feuer qualitativ nicht verschieden ist. Nur in der Quantität, in der Grösse, unterscheidet sie sich.
So wie jeder Stoff eine ihn charakterisierende Eigenschaft besitzt, so besitzt auch die Seele ihre ihr innewohnende Natur. Wasser zum Beispiel ist in seinem natürlichen Zustand flüssig. Durch bestimmte Umstände jedoch kann es zu Eis werden. Genauso ist für die Seele natürlich, Gott zu dienen, doch durch den Kontakt mit dieser kalten materiellen Welt wird die Seele durch das falsche Ego wie gefroren und möchte Gott vergessen und den Herrn imitieren. Aber genauso, wie die Funken zum Feuer oder die Sonnenstrahlen zur Sonne gehören, gehört die Seele zu Gott, um Ihm ewiglich in der spirituellen Welt zu dienen. Ein Fisch wird nur glücklich, wenn er im Wasser schwimmen kann, nicht wenn er auf trockenem Land nach Luft schnappt. Auch wir werden erst dann wirklich glücklich werden, wenn wir uns von den Wellen der Liebe zu Gott treiben lassen. Der einfachste Vorgang, diese Liebe zu Gott zu erwecken und sich als Seele wieder zu erkennen, ist das Chanten der Heiligen Namen Śrī Kṛṣṇas, wie es von Śrī Caitanya Mahāprabhu gezeigt wurde:
Hare Kṛṣṇa Hare Kṛṣṇa Kṛṣṇa Kṛṣṇa Hare Hare
Hare Rāma Hare Rāma Rāma Rāma Hare Hare