Nach Auffassung der Veden ist transzendentaler Klang bzw. transzendentales Wissen der Ursprung dieser Welt, nicht etwa atomisch kleine Teilchen und Partikel. Im Srimad Bhagavatam heißt es:
Jemand mag sagen, dass alle Vielfalt aus der Erde erwächst. Aber obwohl das Universum momentan real zu sein scheint, hat es keine wirkliche Existenz. Die Erde entsteht aus einer Kombination atomisch kleiner Partikel, doch auch diese Partikel sind unreal. Kleine Teilchen sind im Grunde nicht die Ursache des Universums, sondern theoretische Modelle, die unwissende Philosophen als Erklärung für die Vielfalt dieser Welt bemühen. (SB 5.12.9)
Was also ist dann Wahrheit? Transzendentales, nichtduales Wissen ist Wahrheit. Transzendentales Wissen ist frei von materiellen Mängeln und es gibt Befreiung. Es ist das eine Wissen, neben dem es nichts Zweites gibt, alldurchdringend und jenseits der Vorstellungskraft. Die erste Verwirklichung dieses Wissens ist das alldurchdringende Ganze, das Brahman. Die zweite Stufe der Verwirklichung ist die Überseele, Paramatma, die von den Yogis in ihrem friedvollen Herzen erkannt wird, und die höchste Verwirklichung dieses Wissen ist die Erkenntnis Bhagavans, der Höchsten Person. (SB 5.12.11)
Transzendentales Wissen ist gleichbedeutend mit transzendentalem Klang. Transzendentales Wissen bzw. transzendentaler Klang ist die eine, ursprüngliche Wahrheit, von der alles ausgeht, die alles durchdringt und in der alles ruht. Deshalb heißt es im Vedanta-Sutra (2.4.4):
tata purvaktvad vacah – Denn schon vor der Schöpfung war das Wort.
Der ursprüngliche Klang bzw. die ursprüngliche Wahrheit wird durch die heilige Silbe Oṁ repräsentiert. Alles Wissen, alle Wahrheit und alles Existierende sind auf feinstoffliche Weise im transzendentalen Klang Oṁ enthalten. Das Srimad Bhagavatam schreibt:
Aus der feinstofflichen transzendentalen Schwingung erschien das Oṁkāra, das sich aus drei Klängen zusammensetzt. Das Oṁkāra enthält unsichtbare Kräfte und manifestiert sich von selbst in einem geläuterten Herz. Es repräsentiert die vollständige Absolute Wahrheit in ihren drei Aspekten. (SB 12.6.39)
Oṁkāra zeigt sich als die drei ursprünglichen Klänge des Alphabets: A, U und M. Diese drei erhalten alle verschiedenen dreifachen Aspekte materieller Existenz, einschließlich der drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur, den Namen des Rig‑, Yajur- und Sama-Veda, der drei Bestimmungsorte Bhur, Bhuvar und Svar und der drei Bewusstseinszustände Jagrat, Svapna und Susupti. (SB 12.6.42)
Das transzendentale Oṁkāra kann nicht mit materiellen Sinnen oder dem Verstand wahrgenommen werden. Das gesamte Vedische Wissen erweitert sich aus dem Oṁkāra, das aus der Seele im Himmel des Herzens erscheint. Es zeigt direkt die urerste Absolute Wahrheit an, die Überseele, und ist die geheime Essenz und der ewige Same aller Vedischen Mantras. (SB 12.6.40–41)
Obwohl man die Silbe Om scheinbar mit den materiellen Ohren hören kann, ist der hörbare Klang nur die äußere Manifestation des transzendentalen Klangs. Die eigentliche Verwirklichung transzendentalen Klangs findet auf tieferen Ebenen statt:
Der transzendentale Klang Vedischen Wissens ist nur sehr schwer zu erfassen. Er manifestiert sich auf verschiedenen Ebenen im Prana, den Sinnen und dem Geist. Vedischer Klang ist unbegrenzt, sehr tief und unergründlich wie der Ozean. (SB 11.21.36)
Die folgende Tabelle zeigt die vier Ebenen Vedischen Klangs:
Para | Pasyanti | Madhyama | Vaikhari |
transzendentale Ebene | ursächliche Ebene | feinstoffliche Ebene | grobstoffliche Ebene |
Seele | Intelligenz | Geist | Sinne |
transzendentales Bewusstsein | traumloses Bewusstsein | Traumbewusstsein | Wachbewusstsein |
Adhara-Cakra | Manipuraka-Cakra | Anahata-Cakra | Visuddha-Cakra |
Konturloser Klang | M | U | A |
Nur eine reine Seele, die die höchste Wahrheit in all ihren Aspekten verwirklicht hat, ist in der Lage, transzendentalen Klang (shabda-brahma) zu chanten. Und wenn jemand, dessen Herz dafür empfänglich ist, solchen transzendentalen Klang hört, wird sein schlummerndes Bewusstsein dadurch erweckt.
Srila Bhaktirakshak Sridhara Maharaja beschrieb diesen Vorgang einmal anschaulich:
Der verwirklichte Guru chantet „Hare Krishna”.
Unsere materiellen Ohren hören einen Klang, der dem transzendentalen Namen Krishnas ähnelt. Unser Trommelfell bewegt die Flüssigkeit im Innenohr, halb Wasser und halb Luft, welche das Ätherelement zum Schwingen bringt und unseren Geist berührt. Zu diesem Zeitpunkt ist die Seele noch unbeteiligt, man erfährt noch nichts Spirituelles.
Indem wir mit den Eindrücken unseres Geistes hören, genießen wir den Klang der Zimbeln, den Rhythmus des Chantens, die angenehme Gesellschaft und die Wirkung des Hörens und Chantens. Doch damit hört es nicht auf. Der ursprünglich vom Guru gechantete Klang durchstößt den Geist und aktiviert unseren Intellekt und dann beginnen wir, über spirituelle Philosophie nachzudenken.
Für Millionen von Jahren chanteten die Weisen an den Ufern heiliger Flüsse und so entstanden zahllose Auffassungen über die möglichen Effekte des Chantens. Doch auch dies, obgleich zweifellos sehr freudvoll, ist keine spirituelle Offenbarung im wirklichen Sinne. Denn über der Intelligenz befindet sich das spirituelle Element – die Seele, ich selbst. Der transzendentale Klang, der meine Sinne, meinen Geist und meinen Intellekt durchdrungen hat, aktiviert nun die subtilsten Bereiche meiner Existenz. Dies ist die Wahrnehmung des transzendentalen Klangs auf der spirituellen Ebene, mit meinen spirituellen Ohren.
An diesem Punkt wird die Seele inspiriert, sie rekapituliert und sendet die Schwingung zurück zur Intelligenz, zum Geist und so weiter, bis zur äußeren Zunge und dann sagen wir „Hare Krishna”. Dieses Hare Krishna ist Er, die Höchste Wahrheit. Und wir tanzen in Glückseligkeit.
Die Bedeutung der Silbe Oṁ oder Aum wird wie folgt angegeben:
A – bedeutet Krsna, die Höchste Wahrheit, der Herr des Universums, das unendliche Reservoir aller Freude und der Ruheort aller guten Eigenschaften in unbegrenzter Fülle, der alle Lebewesen zu Sich hinzieht und damit den Kreislauf von Geburt und Tod beendet
U – die Energie des Herrn, verkörpert durch Srimati Radharani, Seine Freudenkraft, die sich im Herzen ausbreitet, wenn man über den Heiligen Namen meditiert
M – die Lebewesen
Auf der höchsten Stufe der Verwirklichung, d.h. in samadhi oder auf der Ebene der Seele, erkennt man, dass der transzendentale Klang die Höchste Wahrheit selbst ist, die in drei spirituellen Aspekten wahrgenommen wird: 1. als das alldurchdringende, allumfassende Unmanifestierte, im Sanskrit Brahman genannt, 2. als die universale lenkende Kraft, die Überseele (Paramatma), die die Geschicke dieser Welt und aller Lebewesen kontrolliert, und 3. als Höchste Person, Krishna, Gott oder Bhagavan, der freudvoll in seinem eigenen Reich jenseits der materiellen Welt existiert.
Die Silbe Oṁ ist somit nicht verschieden von Krishna, der Höchsten Wahrheit, oder anders ausgedrückt ist Oṁ die Klangrepräsentation Krishnas. Obwohl beide nicht verschieden voneinander sind, wird es im gegenwärtigen Zeitalter des Kali empfohlen, den Hare Krsna-Mahamantra zu chanten:
Hare Krishna Hare Krishna Krishna Krishna Hare Hare
Hare Rama Hare Rama Rama Rama Hare Hare
Der Grund dafür ist der, dass für das Chanten von Oṁ strikte Regeln und Vorschriften gelten, die in der heutigen Zeit nur sehr schwer einzuhalten sind. Für das Chanten des Hare Krishna-Mahamantras gelten diese Vorschriften nicht, er kann zu jeder Zeit und unter allen Umständen gechantet werden. So liest man in der Kali-Santara-Upanishad:
Brahmaji sprach: Hare Krishna Hare Krishna Krishna Krishna Hare Hare, Hare Rama Hare Rama Rama Rama Hare Hare: Dieser Hare-Krishna-Mahamantra, der aus 16 Namen besteht, kann alle Sünden des Kali-Zeitalters zerstören. Die Veden beschreiben keinen besseren Vorgang der spirituellen Praxis für das Kali-Yuga als das Chanten dieses Mantras. Dieser Mantra verfügt über 16 Kräfte, was bedeutet, dass er die fünf groben Elemente (panca-bhuta) und die elf Sinne, die die Seele bedecken, zerstört. Alsdann zeigt sich Parambahma, die Höchste Wahrheit, vor der Seele, genau wie die Sonne, die hell scheint, sobald die Wolken verflogen sind.
Narada Muni fragte: Mein Herr, welche Regeln und Vorschriften muss man einhalten, um diesen Mantra zu chanten?
Brahmaji antwortete: Es gibt keine Regeln und Vorschriften für diesen Mantra. Man kann ihn im reinen oder unreinen Zustand chanten. Indem man diesen Maha-Mantra deutlich ausspricht, kann man Befreiung erlangen, und nicht nur das, sondern sogar Krishna-Prema kosten, Liebe zu Krishna, das höchste Ziel des Lebens.
Warum der Hare-Krishna-Mantra als Maha-Mantra oder der große Mantra bezeichnet wird, erfahren wir aus der Ananta-Samhita:
Unter allen Namen Gottesbeseitigt kein Name so sehr alle Sünden, alles Unglück und alle Unwissenheit wie Hari (hare). Kein anderer Name außer Krishna gewährt reine Liebe (prema). Und kein anderer Name schenkt so schnell Befreiung wie Rama. Deshalb ist der Maha-Mantra aus diesen drei Hauptnamen Gottes zusammengesetzt. Darüber hinaus stellen diese sechzehn Namen eine Anrufung dar, was bedeutet, dass Zusätze wie oṁ, namah, kliṁ oder svaha nicht nötig sind, um den Mantra kraftvoller werden zu lassen. Aus diesem Grund nennt man ihn den Maha-Mantra oder Großen Mantra.
Die Ergebnisse des Chantens werden wie folgt beschrieben (Sri Sikshastakam, Vers 1):
ceto darpana marjanam – Das Chanten des Hare Krishna-Mahamantras reinigt das Herz. Das Herz wird mit einem Spiegel verglichen. So wie man sein Gesicht in einem verstaubten Spiegel nicht sehen kann, so kann ein Lebewesen in seinem durch Unwissenheit bedeckten Herzen sein wahres Selbst nicht wahrnehmen. Durch das Chanten von Hare Krishna verschwinden allmählich die Unwissenheit und die Bedeckungen des Herzens und die Seele kann ihr wahres, reines Ego annehmen – als ein ewiger Diener Krsnas. Durch die Kraft des Heiligen Namens wird man verstehen, dass man eine ewige Beziehung zu Gott besitzt.
bhava-maha-davagni-nirvapanam, sreyah-kairava-candrika-vitaranam – Das Chanten beendet den endlosen Kreislauf von Geburt und Tod, der mit einem lodernden Waldbrand verglichen wird. Das Chanten ist die ewige Beschäftigung der Seele und ist somit der Weg und das Ziel und erweckt unser schlummerndes Glück der Liebe zu Gott. Dieses Glück erfährt man nicht nur selbst, sondern auch andere Lebewesen haben einen Nutzen davon. Man kann diese Welt mit einem See vergleichen. Ein Stein, den man in einen See wirft, erzeugt Wellen, die jeden Punkt des Ufers berühren. Genauso erzeugt jeder Klang Wellen im Äther, die sich überallhin ausbreiten und alles berühren. Man kann praktisch erfahren, wie Klänge und Töne unsere Gefühle beeinflussen. In gleicher Weise wird auch unser Chanten einen positiven Einfluss auf die Welt um uns herum haben.
vidya-vadhu-jivanam – Der Mantra segnet den Chantenden mit transzendentalem Wissen und zerstört alle Unwissenheit und falsche Identifikation. Er eröffnet somit die Türen zur spirituell Welt.
anandambudhi-vardhanam prati-padam purnamrtasvadanam – das spirituelle Glück wächst unbegrenzt an. Auf Schritt und Tritt wird man immer neue Freude im liebevollen Austausch mit Krishna entdecken.
Der Heilige Name kann mit einer kostbaren Frucht verglichen werden. So wie man eine köstliche reife Mango nicht einfach vom Baum fallen lässt, sondern vorsichtig herabreicht, so wird man diesen Heiligen Namen von einem Guru in einer echten Schülernachfolge empfangen. Der spirituelle Meister, der den Heiligen Namen völlig verwirklicht hat, gibt Ihn an seinen ergebenen Schüler weiter. So ein spiritueller Meister ist der beste Freund und höchste Wohltäter und ein Schüler sollte ihm mit Dankbarkeit dienen, indem er den Heiligen Namen mit Liebe und Vertrauen chantet.
Obwohl die Ergebnisse des Chantens wunderbar sind, der Hare-Krishna-Mantra keine Regeln verlangt und jeder ihn chanten kann, hängt viel von unserer inneren Haltung beim Chanten ab. Um den Heiligen Namen unablässig chanten zu können und rasch die Ergebnisse des Chantens zu erfahren, sind vier Eigenschaften notwendig (Sri Sikshashtakam, Vers 3):
trnad api sunicena – sich selbst als unbedeutender als einen Grashalm ansehen,
taror api sahishnuna – toleranter sein als ein Baum,
amanina – keine Ehre für sich selbst erwarten, und
mana dena – allen anderen Respekt erweisen.
Zum Abschluss noch ein Zitat aus dem Padma-Purana:
nama cintamanih krishnas
caitanya-rasa-vigrahah
purnah suddho nitya-mukto
'bhinnatvan nama-naminoh
Der Heilige Name ist ein transzendentales, wunscherfüllendes Juwel, denn es besteht kein Unterschied zwischen Krishnas Namen und Krishna Selbst. Er schenkt das höchste Ziel – Liebe zu Gott. Dieser Name ist der Inbegriff aller Glückseligkeit, Er ist rein, unbegrenzt und frei von jeglichem Einfluss Mayas, der Illusion.