Durch die Ohren sehen
Die Monate nach Gaura Pūrṇimā verbrachten viele brahmacārīs auf Predigerreisen. Śrīla Gurudeva jedoch blieb mit einigen jüngeren brahmacārīs und älteren Vaiṣṇavas in der Devānanda Gauḍīya Maṭha. Gurudeva nahm enthusiastisch die Verantwortung für viele Dienste auf sich. Er blieb bei Ācārya Kesarī und folgte sorgsam seinen Anweisungen. Gurudeva wartete nicht, bis die Anweisungen ausgesprochen wurden, sondern erfüllte sie schon ungefragt. Ein reiner Schüler denkt nicht: „Ich diene nur auf Anweisung meines spirituellen Meisters.“ Vielmehr sieht er Śrī Guru und die Vaiṣṇavas als seine Familie an. Gurudeva hatte eine naturgegebene Diensthaltung und dachte: „Wo kann ich helfen? Was muss getan werden?“ Durch die Gnade Ācārya Kesarīs bekam er die Intelligenz, das Richtige und Notwendige zu tun.
Ācārya Kesarī war mit Publizieren und Predigen ausgefüllt. Abends sprach er hari-kathā. Auf seine Anweisung hin sang Śrīla Gurudeva morgens und abends im Tempelraum kīrtana. Seine süße Stimme berührte die Herzen derer, die ihn singen hörten. Nach dem kīrtana hörte Gurudeva aufmerksam hari-kathā. Ācārya Kesarī sprach über verschiedene Themen, vor allem aber über die Herrlichkeit der guru-varga und seines göttlichen Meisters, Prabhupāda Sarasvatī Ṭhākura. Vertrauensvoll nahm Śrīla Gurudeva diese Lehren in sich auf.
Für einige Tage gab es nach den morgendlichen bhajanas keinen hari-kathāVorträge, weshalb Gurudeva damit begann, Vorträge zu halten. Ācārya Kesarī war über den Enthusiasmus seines Schülers erfreut und ermutigte ihn: „Gaura Nārāyaṇa, fahre damit fort. So erhältst du den Nutzen sowohl des Hörens als auch des Chantens über den Ruhm des Herrn. Du kannst morgens über das Caitanya-Bhāgavata sprechen.“
Obwohl Gurudeva erst ein paar Monaten im Tempel lebte, las er täglich aus dem Caitanya-Bhāgavata vor und gab tiefgründige Erläuterungen. Einen Tag sprach er über den einzigartigen Beitrag Śrīla Bhaktisiddhānta Sarasvatī Gosvāmī Prabhupādas. Ein paar ältere Schüler Prabhupādas, die im āśrama lebten, hörten Gurudeva über ihren spirituellen Meister sprechen, als hätte er ihn persönlich gekannt. Sie stellten seine Aussagen in Frage: „Wir haben Prabhupāda mit eigenen Augen gesehen und kennen ihn gut. Du hast ihn nie getroffen oder auch nur gesehen, wie kannst du auf eine Weise sprechen, als ob du mit seiner Persönlichkeit bestens vertraut wärest?“
„Doch, ich habe ihn gesehen“, entgegnete Gurudeva geradeheraus.
„Dieser neue Junge nimmt sich einiges heraus“, wunderten sich die Schüler Prabhupādas. „Er wohnt erst ein paar Tage im Tempel, aber wagt es, zu behaupten, dass er unseren Prabhupāda kennt.“
Sie gingen zu Ācārya Kesarī, um sich zu beschweren: „Keśava Mahārāja, dieser Gaura Nārāyaṇa behauptet, dass er Śrīla Prabhupāda gesehen hat und seine Größe kennt. Er ist überheblich und folgt nicht der Vaiṣṇava-Etikette.“
„Schickt ihn zu mir“, sagte Ācārya Kesarī.
Als Gurudeva kam, fragte ihn Ācārya Kesarī: „Du sagst, dass du Śrīla Prabhupāda gesehen hast. Stimmt das? Hast du ihn gesehen?“
„Ja, ich habe ihn gesehen.“
„Wie das?“
„Viele seiner Schüler haben Prabhupāda nur mit ihren Augen gesehen“ antwortete Gurudeva, „aber das ist nicht die beste Art, göttliche Persönlichkeiten zu sehen. Ich habe ihn mit meinen Ohren gesehen, durch das Medium deiner gütigen Worte. Somit habe ich Prabhupāda durch deine Augen und durch dein Herz gesehen.“
Ācārya Kesarī war erstaunt, diese Antwort zu hören, und hieß Gurudeva, weiterzusprechen.
Gurudeva fuhr fort: „Prabhupāda, die ganze Schülernachfolge, Caitanya Mahāprabhu und Rādhā-Kṛṣṇa wohnen in deinem Herzen. Als du über Prabhupāda sprachst, gab ich deinen Worten einen Platz in meinem Herzen. Jetzt ist Prabhupāda mit dir dort immerzu anwesend.“
Ācārya Kesarīs Herz schmolz. Er sprach mit belegter Stimme: „Ich bin sehr glücklich. Du hast den Ruhm Śrī Haris, Gurus und der Vaiṣṇavas wahrhaft gehört. Das Bhāgavatam bestätigt, dass man transzendentale Persönlichkeiten am besten durch die Ohren wahrnimmt.
tvaṁ bhakti-yoga-paribhāvita-hṛt-saroja
āsse śrutekṣita-patho nanu nātha puṁsām
Śrīmad-Bhāgavatam 3.9.11
Mein Herr, deine Geweihten sehen Dich durch ihre Ohren, wenn sie über Dich hören. Du lässt dich im reinen lotusgleichen Herzen solcher Gottgeweihten nieder.
Ācāryadeva sagte weiter: „Spirituelle Wirklichkeit wird nie mit materiellen Augen gesehen. Viele Leute sahen Śrīla Śukadeva Gosvāmī nackt umherwandern. Sie lachten ihn aus, klatschten und bewarfen ihn mit Steinen, aber der junge Śukadeva Gosvāmī blieb ungestört, weil er in der Absoluten Wahrheit verankert war. Als er dagegen für sieben Tage und Nächte ohne Pause das Śrīmad Bhāgavatam sprach, hörten alle großen Weisen gespannt zu. Durch diesen Vorgang des Hörens waren sie in der Lage, die Eigenschaften und den Charakter Śukadeva Gosvāmīs zu verstehen. Dennoch konnten auch viele der Weisen nicht alle Wahrheiten des Śrīmad Bhāgavatams verinnerlichen, weil sie sich Śukadeva Gosvāmī nicht ergeben hatten. Sūta Gosvāmī aber, Parīkṣit Mahārāja und einige wenige andere verwirklichten die höchste Wahrheit der Liebe und Hingabe zu Kṛṣṇa vollkommen.“
Ācārya Kesarī schloss: „Trage weiter aus dem Caitanya Bhāgavata vor. Ich bin mit deiner aufrichtigen Bemühung zufrieden.“
Durch sein Vertrauen demonstrierte Śrīla Gurudeva die Kraft der Worte des spirituellen Meisters und zeigte, dass man über transzendentalen Themen von einer selbstverwirklichten Seele hören muss. Sobald ein Schüler die Worte Śrī Gurus und der reinen Gottgeweihten aufmerksam und mit vollem Vertrauen hört, wird sich die Bedeutung ihrer Worte in seinem Herzen offenbaren und den Knoten materieller Anhaftung zertrennen. Die Schüler, denen es an Vertrauen in Śrī Guru mangelt und die seine Worte vernachlässigen, können den leidigen Ozean von Geburt und Tod dagegen nicht überqueren, weil sie an zeitweiligen, weltlichen Beziehungen haften, welche Halmen von Stroh gleichen, die nur kurz durch die Launen des Schicksals im Meer zusammengetrieben werden. Aus diesem Grund müssen Schüler die Worte ihres Gurus als ihren wahren Reichtum ansehen. Der intelligente Schüler wird die Aussagen Śrī Gurus in sein Herz aufnehmen, wohl wissend, welches Juwel ihm anvertraut wurde. Dieses selbstleuchtende Juwel wird ein göttliches Licht aussenden, das die Dunkelheit, die die verkörperte Seele seit Millionen Leben in Unwissenheit hält, vertreibt. Diesen Schatz des hari-kathās erlangt man nur durch die Gnade eines reinen Gottgeweihten.