S eit der Gründung der Keśavajī Gauḍīya Maṭha hatte Ācārya Kesarī sich gewünscht, Bildgestalten von Śrī Śrī Rādhā-Kṛṣṇa zu installieren. Im Spätsommer 1956 nahm er Śrīla Gurudeva mit nach Jaipur, um Bildgestalten für die Keśavajī Gauḍīya Maṭha in Auftrag zu geben. Sie blieben für fünfzehn Tage und suchten einen geeigneten Bildhauer. Obwohl sie viele Werkstätten abliefen, waren sie nicht zufrieden. Ācārya Kesarī verlangte von den Künstlern: „Falls die Bildgestalten uns nicht gefallen, müssen Sie sie noch einmal neu hauen. Selbst wenn Sie sie schon zehn Mal gefertigt haben ‒ solange die Bildgestalten nicht genau stimmen, müssen Sie noch einmal von vorn anfangen.“
Die meisten Bildhauer in Jaipur waren gewieft und warteten auf unwissende und gutgläubige Kunden. Sie polierten grobe, rissige Steinbrocken, um die Bildgestalten nach außen schön aussehen zu lassen, und verkauften sie für hohe Preise. Śrīla Gurudeva und Ācārya Kesarī suchten die Märkte in Jaipur ab und kamen schließlich zu einem bescheidenen Geschäft in der Khajana Valle Road, der einem wenig begüterten, aber talentierten Bildhauer gehörte. Er hatte vier Söhne, von den zwei bei ihm in die Lehre gingen, sein ältester, Lalu, zwölf Jahre alt, und dessen jüngerer Bruder Sundar. Der Bildhauer war nicht sehr bekannt, aber arbeitsam und talentiert. Er lebte von Auftragsarbeiten für bekanntere Geschäfte. Ācārya Kesarī and Śrīla Gurudeva bemerkten, dass er versiert und ernsthaft war.
„Können Sie Rādhā-Kṛṣṇa-Bildgestalten anfertigen?“, fragte Ācārya Kesarī.
„Mahārāja“, antwortete der Bildhauer, „ich bin arm. Ich arbeite nur für andere Läden.“
„Ich kann Sie befähigen, soviel zu verdienen“, sagte Ācārya Kesarī, „dass viele Generationen Ihrer Familie sorglos und komfortabel leben können.“
„Mahārāja, Sie sind ein gütiger sādhu. Was wollen Sie mir geben?”
„Ich werde Ihnen ein Mantra geben, dass Ihnen Rādhā-Kṛṣṇa offenbart.“
„Sehr gut“, sagte der Bildhauer. „Was für eine Art von Magie ist das?“
„Keine Magie“, erwiderte Ācārya Kesarī. „Ich besitze reine Liebe und ich werde einen Tropfen davon in Ihr Herz übertragen. Dann werden Sie die göttliche Form Rādhā-Kṛṣṇas in meinem Herzen verwirklichen können und in der Lage sein, die Bildgestalten entsprechend zu fertigen.“
Der Bildhauer war beeindruckt von der Überzeugung des Ācāryas und willigte ein: „Bitte geben Sie mir das Mantra. Durch Ihre Gnade ist alles möglich.“
Am nächsten Morgen flüsterte Ācārya Kesarī die gāyatrī-mantras in das rechte Ohr des Bildhauers. Dann instruierte er ihn: „Chanten Sie diese Mantras fortgesetzt, bis sich Rādhā und Kṛṣṇa vor Ihrem inneren Auge offenbaren, und fertigen Sie dann genau danach die Bildgestalten. Beginnen Sie nicht, bevor sie nicht eine Vision des Göttlichen Paares hatten.“
Der Bildhauer begann sich in das Chanten der Mantras zu vertiefen und Ācārya Kesarī kehrte mit Śrīla Gurudeva nach Mathurā zurück. Ācārya Kesarī sandte Śrīla Gurudeva einige Tage später wieder nach Jaipur, doch der Bildhauer erbat sich mehr Zeit. Zwei Wochen später schickte Ācārya Kesarī Śrīla Gurudeva erneut. Als Gurudeva dieses Mal kam, sagte der Bildhauer aufgeregt: Heute habe ich die unglaublich schöne Form des Göttlichen Paares erblickt.“
Śrīla Gurudeva kehrte zurück und informierte Ācārya Kesarī und sie begaben sich zusammen zur Werkstatt. Der Bildhauer fiel Ācārya Kesarī zu Füßen und betete: „Guru Maharaja, Sie sind ein Reich der Barmherzigkeit. Durch Ihre Gnade habe ich göttliche Form Ihrer geliebten Herren sehen dürfen.“
Ācārya Kesarī lächelte. „Sehr gut. Fertigen Sie jetzt nach Ihrem Abbild die Bildgestalten. Wir werden zurückkommen, wenn Sie fertig sind, und Ihre Mühe belohnen.“
„Gurudeva“, sagte der Bildhauer, „ich bin sehr arm. Ich besitze nicht einmal genug, um den Marmor zu kaufen.“
„Wieviel brauchen Sie?“
„Nur fünfzig Rupien.“
Ācārya Kesarī gab ihm bereitwillig die Summe.
„Guru Mahārāja, Kṛṣṇa-Bildgestalten sind normalerweise schwarz, aber die Rādhā-Kṛṣṇa, die ich gesehen habe, waren beide hell.“
„Mein Kṛṣṇa ist Rādhā-Vinoda-Bihārī. Er hat die Körpertönung Śrīmatīs angenommen, weil Er völlig in Gedanken an Sie vertieft ist.“
Der Bildhauer ging zu einem Händler und teilte ihm sein Anliegen mit. Der Händler bemerkte: „Ich habe hier schon lange Zeit zwei große Marmorblöcke liegen, für die sich keine Verwendung findet. Die kann ich Ihnen für fünf Rupien verkaufen.“
„Wie ermächtigt mein Gurudeva ist“, dachte der Bildhauer. Er bezahlte die fünf Rupien und brachte die Marmorblöcke zu seiner Werkstatt.
Ācārya Kesarī und Śrīla Gurudeva verehrten die Marmorblöcke mit den vorgesehenen vedischen Ritualen und umkreisten sie respektvoll. „Wann werden Sie fertig sein?“, fragte Ācārya Kesarī.
„In ungefähr einem Monat, denke ich.“
„Dann sehen wir uns wieder.“
„Bitte nehmen Sie Ihr Geld. Der Marmor war billig. Alles, was ich möchte, ist Ihre Barmherzigkeit.“
„Nein, behalten Sie das Geld. Es ist auch eine Form meiner Barmherzigkeit.“
Nach einem Monat kam Ācārya Kesarī mit Śrīla Gurudeva zurück und sah, dass der Bildhauer zauberhafte, vier Fuß große Bildgestalten von Rādhā and Kṛṣṇa geschaffen hatte.
Ācārya Kesarī gab seinem Schüler 100 Rupien für die Bildgestalten. Der versuchte, das Geld zurückzugeben, und sagte: „Ich brauche nichts.“
„Nein, nein, Sie sind wie mein Sohn. Bitte behalten Sie es.“
„Viele Leute haben mir 200 Rupien angeboten, weil die Bildgestalten so schön sind, aber ich habe abgelehnt. Bitte nehmen Sie Sie nicht aus meinem Herzen. Lassen Sie mich diesen transzendentalen Reichtum, den Sie mir gegeben haben, behalten.“
Ācārya Kesarī segnete seinen Schüler und versicherte ihm: „Chante das Mantra weiter und deine Beziehung zu Śrī Śrī Rādhā Kṛṣṇa wird sich vertiefen. Zudem wird dein Geschäft florieren. Du wirst dir nie Sorgen machen müssen.“
Am Annakūṭa-Tag, dem 3. November 1956, installierte Ācārya Kesarī festlich Śrī Rādhā-Vinoda-Bihārījiu in der Keśavajī Gauḍīya Maṭha. Damit gab er jedem die goldene Gelegenheit, den Bildgestalten zu dienen. Er kündigte auch an, den Tag der Installation der Bildgestalten jedes Jahr aufs Neue feierlich zu begehen. Die Gottgeweihten, die Rādhā-Vinoda Bihārī betrachteten, spürten, dass die Bildgestalten ihre göttliche Form aufgrund der unvergleichlichen Liebe Ācārya Kesarīs offenbart hatten.
Ācārya Kesarī instruierte Śrīla Gurudeva, wie er den Bildgestalten dienen sollte: „Verehre Ṭhākurjī mit vollständigem arcana, fünf Opferungen und vier aratis täglich. Strebe nicht nach einem reichen, opulenten Tempel, denn sonst wirst du um deinen transzendentalen Reichtum betrogen werden. Erhalte den Tempel, indem du die brahmacārīs von Tür zu Tür schickst, um Almosen zu erbetteln. Nimm nur rohe Zutaten an und opfere zuerst alles zu Śrī Śrī Rādhā-Vinoda-Bihārī.“ Śrīla Gurudeva begann, Rādhā-Vinoda Bihārī enthusiastisch zu dienen.
Einmal fragte ein Gottgeweihter in Mathurā Gurudeva: „Warum hat Kṛṣṇas als Vinoda-Bihārī eine weiße Hauttönung? Aus welchem Grund verehrt Śrīla Bhaktiprajñāna Keśava Mahārāja einen hellen Kṛṣṇa?“ Śrīla Gurudevas Herz war mit den transzendentalen Gefühlen seines spirituellen Meisters im Einklang und so beschrieb er Ācārya Kesarīs Gemütsstimmung:
„Obwohl Paramārādhyatama Gurupādapadma nach außen grimmig wie ein Löwe und hart wie ein Blitz erscheint, sind seine inneren Gefühle im Dienst Śrī Rādhā-Kṛṣṇas so sanft wie eine Blume. Erfahrene Gottgeweihte, die die Stimmung Vrajas in sich tragen, sind von zweierlei Haltung: entweder parteiisch für Kṛṣṇa oder parteiisch für Śrīmatī Rādhārāṇī. Diejenigen auf Seiten Śrīmatī Rādhārāṇīs (rādhā-pakṣa) wünschen sich nicht, dass Sie von Kṛṣṇa getrennt wird und sich einsam fühlt, aber sind erfreut, wenn sich Kṛṣṇa nach Śrīmatī Rādhārāṇī sehnt. Sie fühlen so: ‚Meine Śrīmatījī ist höchst erhaben und sogar Kṛṣṇa, die Höchste Absolute Wahrheit, verehrt Sie‘.
Śrī Śiva sprach zu Durgā: ‚Von allen Arten der Verehrung ist die Verehrung Śrī Viṣṇus die höchste. Doch noch höher als die Verehrung Viṣṇus ist die Verehrung Seiner geliebten Geweihten.‘
Kṛṣṇa, der Höchste Herr selbst, verehrt Śrīmatī Rādhārāṇī und betet immerzu um Ihre Gunst. Nur Śrīmatī Rādhārāṇī kann Kṛṣṇa Freude schenken. Ācārya Kesarī verfasste ein Sanskrit-Gebet zu Śrī Rādhā-Vinoda-Bihārī, das Rādhā-Vinoda-Bihārī-Tattvāṣṭakam. Der erste Vers lautet:
rādhā-cintā niveśena yasya kāntir-vilopitā
śrī kṛṣṇa-caraṇaṁ vande rādhāliṅgita vigraham
Wir beten zu den Lotosfüßen Kṛṣṇas, der von Śrīmatī Rādhikā umarmt wird. Als Śrīmatī Rādhikā ihre Stimmung eifersüchtigen Zorns entfaltete, versank Kṛṣṇa in Gedanken an Sie, so dass Seine eigene dunkle Hauttönung verschwand und Er Ihren hellen, goldenen Glanz annahm.“
Śrīla Gurudeva blieb zum einen in Mathurā, um die Herzen der Einwohner dort zu wandeln und zu Vraja hinzuziehen, aber zum anderen auch, um zu Kṛṣṇa über die Vrajavāsīs und Vraja-Devīs zu sprechen. Zuvor hatte Mathurādhiśa Kṛṣṇa nicht gegessen und geschlafen, denn Er fühlte starken Trennungsschmerz. Jetzt allerdings, wo Śrīla Gurudeva mit Ihm in Mathurā wohnte, hörte Er jeden Tag über den Ruhm der Vrajavāsīs und Vraja-Devīs, was Ihm ekstatische Freude schenkte.
In Mathurā und Dvārakā denkt Kṛṣṇa unablässig an die Vrajavāsīs und klagt in Trennung von ihnen. Die Liebe Kṛṣṇa für die Vrajavāsīs wird in denen erwachen, die in der Gemeinschaft der vraja-anurāgis in Mathurā in der Nähe Kṛṣṇas leben, und so qualifizieren sie sich für den Eintritt in Vraja. Deshalb ist die Keśavajī Gauḍīya Maṭha ein Ausbildungszentrum, in dem man sich unter der Leitung Śrīla Gurudevas in spiritueller Praxis übt, mit Vraja-Maṇḍala als Ziel. Bevor Kṛṣṇa Vraja verließ und nach Mathurā ging, hatte Er den Vraja-Devīs versichert, wie sehr Er in ihrer Schuld stand, und dass er diese Schuld nur zurückzahlen könne, wenn Er oder Seine Geweihten sie verherrlichten und die Seelen zu ihrem Dienst brachten. Durch sein hari-kathā und sein Predigen pflanzte Śrīla Gurudeva Respekt für die Vraja-Devīs und die Begierde für ihren Dienst in die Herzen Tausender Menschen. So erfreute Er Kṛṣṇa und die Guru-Varga über alle Maßen.