Zu Zeiten Śrīla Bhaktiprajñāna Keśava Gosvāmī Mahārājas war Śrīla Gurudeva in vielfältigen Diensten in der Mission seines spirituellen Meisters tätig gewesen. Nach Ācārya Kesarīs Eintritt in die Spiele Rādhā-Kṛṣṇas führte Gurudeva seine Dienste ohne Abweichung fort. Gemeinsam mit seinen Gottbrüdern Śrīla Bhaktivedānta Vāmana Gosvāmī Mahārāja und Śrīla Bhaktivedānta Trivikrama Gosvāmī Mahārāja übernahm er Verantwortung für die Gauḍīya Vedānta Samiti. Zusammen waren sie als die drei Säulen der Mission ihres Gurudevas bekannt. Die Geschichte hat gezeigt, dass viele Missionen sich nach dem Weggang ihres Gründers auflösten, aber dank der Hingabe und der gemeinsamen Anstrengung dieser drei geliebten Schüler Ācārya Kesarīs blieb die Gauḍīya Vedānta Samiti bestehen und entwickelte sich weiter.
Śrīla Vāmana Gosvāmī Mahārāja wandte sich an Śrīla Gurudeva und Śrīla Trivikrama Gosvāmī Mahārāja: „Obwohl ich zum ācārya ernannt wurde, sehe ich mich nicht als ācārya. Ich bin nur ein Diener. Nur wenn meine Gottbrüder mich ebenfalls als Diener ansehen und bei mir bleiben, werde ich diese Rolle weiter ausüben.“
„Ich werde dich nicht verlassen“, versicherte ihm Gurudeva.
„Gemeinsam werden wir Verantwortung übernehmen und Guru Mahārājas Wünsche erfüllen“, bestätigte Śrīla Trivikrama Gosvāmī Mahārāja. „Keiner von uns wird eigenmächtig handeln.“
Mit dieser Haltung teilten sich die drei Brüder die Verantwortung, die Mission Ācārya Kesarīs fortzuführen. Sie predigten in ganz Indien, veröffentlichten die Gauḍīya Patrikā und Bhāgavata Patrikā und organisierten Festivals wie das Ratha-Yātrā.
1969 wurden Vorwürfe wegen des Durchführen des Ratha-Yātrās in Navadvīpa-Dhāma laut. Als Ācārya Kesarī ursprünglich das Ratha-Yātrā in Navadvīpa-Dhāma initiiert hatte, gab es keinerlei Einwände. Doch kurz nach seinem Fortgehen veröffentlichte eine Organisation einen Artikel, in dem sie erklärte, dass das Abhalten eines Ratha-Yātrās in Navadvīpa den Prinzipien der rūpānuga-bhakti widerspräche.
Jemand, der guru-gata-prāṇa ist, bereit, sein Leben für den Dienst Śrī Gurus zu geben, wird keine Kritik an seinem geliebten spirituellen Meister tolerieren können, sondern alle falschen Anschuldigungen widerlegen. Śrīla Gurudeva schrieb sogleich ein Essay, in dem er auf fünf Vorwürfe antwortete. Anschließend wurde eine Reihe von Artikeln zwischen den beiden Organisationen ausgetauscht. Unter dem Druck von Gurudevas Argumenten zog die Gegenseite schließlich ihre Aussagen zurück und entschuldigte sich.
Die Hauptaufgabe eines reinen Gurus besteht darin, die devotionalen Stimmungen Vrajas zu verbreiten und aufrichtige Anwärter zu Kṛṣṇa zu bringen. Die mahā-bhāgavata-ācāryas dienen Kṛṣṇa und predigen auf ihre individuelle Weise. Man sollte ihre Aktivitäten nicht in Frage stellen, denn andernfalls beraubt man sich seines eigenen Dienstes zu Kṛṣṇa und verursacht Störungen für andere.
Der am 26. Dezember 1969 in der Bhāgavata Patrikā veröffentlichte Artikel Śrīla Gurudevas trug den Namen:
„Steht das Ratha-Yātrā in Navadvīpa-Dhāma im Widerspruch zur rūpānuga-bhakti-Lehre?“
Nachfolgend ein Auszug aus dem Artikel:
- 1. Zweifel: Navadvīpa ist das versteckte Vṛndāvana, und in Śrī Vṛndāvana findet kein Ratha-Yātrā-Spiel statt.
Siddhānta: Die führenden Bildgestalten der Gauḍīya-Vaiṣṇavas in Vṛndāvana, nämlich Śrī Madana-Mohana, Śrī Govindajī, Śrī Gopīnātha Śrī, Śrī Rādhā-Śyāmasundarajī und Śrī Rādhā-Gokulānandajī, sowie die Bildgestalten in Tempeln anderer sampradāyas, wie Śrī Raṅganāthajī und Śrī Shaha-Biharijī, werden jährlich unter großen Feierlichkeiten auf eine Ratha-Yātrā-Parade geleitet. Auch in Maheśa, Bengalen, hatte Śrī Kamalākara Pippalāi, ein Gefährte Śrī Gaurasundaras, ein Ratha-Yātrā Śrī Jagannāthadevas eingeführt.
Śrī Caitanya Mahāprabhu zeigte uns die besondere Stimmung des Ratha-Yātrās auf. Seine Sicht war die, dass Śrī Kṛṣṇa Seine Kutsche besteigt und nach Vṛndāvana zurückkehrt, um sich mit den gopīs zu treffen, insbesondere mit Śrīmatī Rādhikā. Die gopīs, die lange Zeit unter dem heftigen Schmerz der Trennung von Kṛṣṇa gelitten hatten, waren nach Kurukṣetra gekommen, um Kṛṣṇa zu treffen. Wir müssen bedenken, dass die rūpānuga-ācāryas das Ratha-Yātrā-Fest in dieser Welt manifestierten, um diese Stimmung Caitanya Mahāprabhus in ihren Herzen zu inspirieren und ihren bhajana zu nähren. Einige niṣkiñcana-rūpānuga-Vaiṣṇavas, die nicht über die Mittel verfügten, dieses Fest durchzuführen, erweckten diese Stimmung in ihrem Herzen durch mānasī-sevā. Andere nährten ihre bhāva, indem sie dem Śrī Ratha-Yātrā an verschiedenen Orten direkt beiwohnten, wie in Purī-Dhāma. Der Zweck beider Vorgehensweisen ist grundsätzlich derselbe. Es gibt dabei keinen Unterschied.
- 2. Zweifel: Die Kutsche zu sehen, würde äußerst unangenehme Befürchtungen im Herzen der vraja-gopīs auslösen. Wie können also rūpānuga-Vaiṣṇavas, deren Ziel es ist, die Stimmung der gopīs zu erfahren, an einer Ratha-Yātrā-Prozession teilnehmen?
Siddhānta: Śrī Gaurasundara, der Śrī Kṛṣṇa selbst ist, geschmückt mit den Gefühlen und der Hauttönung Śrī Rādhās; Śrī Gadādhara Gosvāmī (Śrīmatī Rādhā), Śrī Svarūpa Dāmodara (Śrī Lalitājī), Śrī Rāya Rāmānanda (Śrī Viśākhā), Śrīla Rūpa Gosvāmī (Śrī Rūpa Mañjarī), Śrī Sanātana Gosvāmī (Śrī Lavaṅga Mañjarī), Śrī Dāsa Gosvāmī (Śrī Rati Mañjarī) und all die Gefährten Śrī Gaurasundaras, von denen die meisten sakhīs oder sakhās aus Vraja waren, kamen zum Ratha-Yātrā zusammen. Sie alle tanzten und sangen vor dem Wagen, versunken in die Stimmung: kṛṣṇa lana vraje yai e‑bhāva antara ‒ „Lasst uns Kṛṣṇa zurück nach Vṛndāvana bringen“. Verspürten die Gefährten Mahāprabhus beim Anblick des Wagens Unbehagen oder Angst? Ganz bestimmt nicht. Warum sollte es dann bei ihren Nachfolgern, den rūpānuga-Vaiṣṇavas, Kummer oder unangenehme Befürchtungen hervorrufen?
Śrī Gauḍīya-Vaiṣṇava-Ācārya Śrīla Jīva Gosvāmī schreibt in seinem Gopāla-Campū, auf Grundlage des Padma-Purāṇas, dass Kṛṣṇa, nachdem er Dantavakra getötet hatte, in einer Kutsche nach Vraja zurückkehrte. Als sie den Klang von Kṛṣṇas Muschelhorn und das Rattern Seiner Kutsche hörten, ahnten die gopas und gopīs in Vraja, dass Kṛṣṇa zurückgekehrt war. In ihrer unbändigen Begierde, Ihn zu sehen, liefen selbst greise Frauen mit großer Eile dem Klang von Kṛṣṇas Muschelhorn und Kutsche entgegen. Als sie näherkamen und Garuḍa auf der Fahne erkannten, waren sie sich sicher, dass Kṛṣṇa gekommen war. Von Freude überwältigt, standen sie reglos wie Statuen und konnten nicht weiterlaufen. Nur ihr Blick eilte der herannahenden Kutsche entgegen. Daher ist die Auffassung, dass die vraja-gopīs unter allen Umständen Verzweiflung und Furcht empfinden, wenn sie eine Kutsche sehen, nicht richtig.
Das Wichtigste beim Śrī Ratha-Yātrā und auch auf dem Pfad des śrī-rūpānuga-bhajanas ist die innere Stimmung. Äußerliche Dinge oder Orte sind dabei sekundär. Im Ratha-Yātrā wird die innere Stimmung erweckt, dass Kṛṣṇa nach Vraja zurückkehrt. Es gibt keinen inneren Bezug zu Dvārakā oder Mathurā-Dhāma in diesem līlā. Die inspirierte Vision ist ausschließlich die, dass Śrī Kṛṣṇa nach fast 90 Jahren Abwesenheit nach Vraja zurückkehrt. In dieser Stimmung reist Śrī Jagannāthadevajī vom Jagannātha Mandira in Purī zum Śrī Guṇḍicā Mandira, was seine Reise von Dvārakā nach Vṛndāvana symbolisiert. Während der Ratha-Yātrā-Prozession erfuhren Śrī Gaurasundara und seine vertrauten Gefährten höchste Glückseligkeit und sie waren gänzlich in die Stimmungen Śrī Rādhās und der vraja-gopīs vertieft. Zudem tanzten sie auch während der Rückkehr Jagannāthadevas vom Śrī Guṇḍicā zum Śrī Mandira (ulta-ratha-yātrā) in der gleichen Stimmung vor dem Wagen.
Dachten sie, als sie am Ratha-Yātrā in der entgegengesetzten Richtung teilnahmen, dass Śrī Kṛṣṇa Vṛndāvana verließ und nach Mathurā oder Dvārakā zurückkehrte? Niemals. Ein solches Verständnis ist falsch. Im Śrī Caitanya-Caritāmṛta wird beschrieben, dass Śrī Caitanya Mahāprabhu und Seine Gefährten auf dem ulta-ratha-yātrā tanzten und kīrtana sangen:
āra dine jagannāthera bhitara-vijaya
rathe caḍi’ jagannātha cale nijālayaAm nächsten Tag kam Śrī Jagannātha aus dem Tempel heraus und kehrte auf dem Wagen zu seiner eigenen Residenz zurück. (Caitanya-Caritāmṛta, Madhya-Līlā 14.244)
pūrvavat kaila prabhu lañā bhakta-gaṇa
parama ānande karena nartana-kīrtanaWie zuvor sangen und tanzten Caitanya Mahāprabhu und seine Anhänger mit großer Freude. (Caitanya-Caritāmṛta, Madhya-Līlā 14.245)
- 3. Zweifel: Weder in Vergangenheit noch in heutiger Zeit hat je eine im bhajana erfahrene Persönlichkeit ein Ratha-Yātrā in abhinna-Vraja-Maṇḍala, Śrī Navadvīpa-Dhāma, durchgeführt.
Siddhānta: Wann immer eine entsprechende Inspiration in ihr Herz kam, manifestierten große Seelen dieses līlā an verschiedenen Orten in Gauḍa-Maṇḍala, wie zum Beispiel im Distrikt Maheśa. Wenn eine große Persönlichkeit inspiriert wird, dieses līlā in Śrī Navadvīpa-Dhāma zu manifestieren, dann steht dies in keiner Weise im Widerspruch zum Pfad des śrī-rūpānuga-bhajanas. Zum Beispiel wurde in der Śrī Gauḍīya-Vaiṣṇava-Sampradāya seit der Zeit Śrīman Mahāprabhujīs das Śrīmad-Bhāgavatam als der natürliche Kommentar zum Śrī Brahma-Sūtra angesehen. Dennoch manifestierte Śrī Gauḍīya-Vedāntācārya Śrī Baladeva Vidyābhūṣaṇa Prabhu einen separaten Kommentar, den Śrī Govinda-Bhāṣya, als dies notwendig wurde.
- 4. Zweifel: Jagad-guru oṁ viṣṇupāda Śrīla Bhaktisiddhānta Sarasvatī Prabhupāda führte kein ratha-yātrā-līlā in Śrī Gaura-Dhāma durch.
Siddhānta: Jagad-guru oṁ viṣṇupāda Śrīla Bhaktisiddhānta Sarasvatī Ṭhākura manifestierte Śrī Rādhā-Kuṇḍa und Śrī Śyāma-kuṇḍa in Vraja-Pattana (Śrī Caitanya Maṭha) in Śrīdhāma Māyāpura. Er predigte daiva-varṇāśrama-dharma. Er verhalf der Safran-Kleidung und dem tridaṇḍī-sannyāsa in der Gauḍīya-Vaiṣṇava-Sampradāya wieder zur Anerkennung. Er hisste die Siegesflagge des gauḍīya-vaiṣṇava-dharmas auf der ganzen Welt. Vor dem Erscheinen dieses Kronjuwels in der Dynastie der Ācāryas hat kein anderer Ācārya diese Dinge initiiert. Verstößt irgendeine dieser Handlungen Śrīla Prabhupādas gegen die Prinzipien von śrī-rūpānuga-bhakti? Natürlich nicht. Jeder, der so etwas behaupten würde, verstände nicht das Geringste von bhakti-tattva.
- 5. Zweifel: Wie kann der darśana Dvārakās in Śrī Navadvīpa-Dhāma möglich oder angemessen sein?
Siddhānta: Wir haben bereits erklärt, was die vorherrschende Stimmung im śrī ratha-yātrā-līlā ist: kṛṣṇa laña vraje jai. Es gibt nicht einmal eine Spur von einer sphūrti (momentanen Vision) oder dem darśana Dvārakās in dieser bhāva. Daher stellt sich auch die Frage nach dvārakā-darśana bei der Durchführung des Ratha-Yātrās in Śrī Navadvīpa-Dhāma nicht.
Andererseits ist Śrī Navadvīpa-Maṇḍala nicht verschieden von Vṛndāvana und damit aṁsī-dhāma, die Quelle aller dhāmas, in dem sämtliche anderen dhāmas existieren. Mathurā, Dvārakā, Dvārakā, Ayodhyā und Paravyoma existieren ewig in Śrī Navadvīpa-Dhāma, genauso wie die Teilerweiterungen aṁśī-Kṛṣṇas, wie Nārāyaṇa und Viṣṇu, ewig in Ihm existieren.
In Candraśekhara-Bhavana (Vraja-Pattana) in Māyāpura-Dhāma tanzte Śrī Gaurasundara persönlich in der Stimmung Śrī Rukmiṇīs. Es ist bekannt, dass Śrī Rukmiṇīdevī die Gefährtin Kṛṣṇas im dvaraka-līlā ist. Wenn also dieses līlā in Vraja-Pattana möglich ist, warum sollte dann dvārakā-darśana in Śrīdhāma Navadvīpa unmöglich sein? Auf welcher Grundlage kann man also sagen, dass das ratha-yātrā-līlā nicht in Navadvīpa-Dhāma manifestiert werden kann?
Daher lautet die Schlussfolgerung, dass eine untrennbare Beziehung zwischen dem ratha-yātrā-līlā und rūpānuga-anugatya besteht. Śrī Rūpānuga-Vaiṣṇavas manifestieren dieses līlā überall in Navadvīpa-Dhāma und inspirieren so, gemäß Śrīman Mahāprabhus Weg, die innere Stimmung, die im folgenden Vers von Śrīla Rūpa Gosvāmī zum Ausdruck kommt:
priyaḥ so 'yaṁ kṛṣṇaḥ sahacari kuru-kṣetra-militas
tathāhaṁ sā rādhā tad idam ubhayoḥ saṅgama-sukham
tathāpy antaḥ-khelan-madhura-muralī- pañcama ‑juśe
mano me kālindī-pulina-vipināya spṛhayati
(Caitanya-Caritāmṛta, Madhya-Līlā 2.76)Oh Freundin, ich habe Meinen geliebten Kṛṣṇa hier in Kurukṣetra getroffen. Ich bin die gleiche Rādhā und Er ist derselbe Kṛṣṇa, und obwohl das Treffen sehr angenehm war, sehne Ich mich trotzdem zurück ans Ufer der Yamunā unter den Bäumen des Waldes. Ich möchte den Klang Seiner süßen Flöte hören, die im Wald von Vṛndāvana die fünfte Note spielt.
Das nährt den bhajana der echten Śrī Rūpānuga-Vaiṣṇavas.
Der Herausgeber [Tridaṇḍīsvāmī Bhaktivedānta Nārāyaṇa]