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ines frühen Morgens in Vṛṇdāvana, in Anwesenheit vieler seiner älteren Schüler, bat Śrīla Bhaktivedānta Svāmī Mahārāja Śrīla Gurudeva: "Mahārāja, sprich bitte etwas, was das Vertrauen und die Entschlossenheit dieser Geweihten stärkt. Was sind die Merkmale eines Ācāryas? Wer ist würdig, Guru zu sein? Welchen Nutzen hat es, wenn jemand die Rolle eines spirituellen Meisters und Lehrers annimmt? Caitanya Mahāprabhu hat uns angewiesen:
yāre dekha, tāre kaha ‘kṛṣṇa’-upadeśa
āmāra ājñāya guru hañā tāra’ ei deśaUnterweise einen jeden, den Anweisungen Śrī Kṛṣṇas zu folgen, wie sie in der Bhagavad-Gītā und dem Śrīmad-Bhāgavatam niedergeschrieben sind. Werde auf diese Weise ein spiritueller Meister und befreie dieses Land.
(Śrī Caitanya-Caritāmṛta, Madhya-Līlā 7.128)
Was ist deine Sichtweise dazu?" fragte Śrīla Svāmī Mahārāja. "Ist jeder berechtigt, Guru zu werden? Welches ist das richtige Verständnis?"
Śrīla Gurudeva erinnerte sich zunächst an seinen Guru Mahārāja und an die guru-paramparā und erwies ihnen seine Ehrerbietungen. Dann brachte er Śrīla Svāmī Mahārāja, den er als śikṣā-guru respektierte, sowie den Vaiṣṇavas, dem dhāma und den Gefährten Mahāprabhus seine Ehrerbietungen dar.
Er betete zu Śrīla Svāmī Mahārāja: "Mögen deine Gnade und die Segnungen meines Guru Mahārājas durch meine Worte zum Ausdruck kommen. Ich werde mich bemühen, etwas von der Auffassung Śrīman Mahāprabhus und der bhāgavat-paramparā wiederzugeben. Dieses Thema ist sehr tief und es ist wichtig, es richtig zu verstehen. Die literarische Inkarnation Bhagavāns, unser spiritueller Ahnherr Śrī Vyāsadeva, brachte sogar seinem eigenen Sohn Ehrerbietungen dar und akzeptierte ihn als seinen Guru. Vyasadeva betete zu ihm:
'yaṁ pravrajantam anupetam apeta-kṛtyaṁ – Zu Beginn erweise ich meine Ehre Śukadeva Gosvāmī, der als der geliebte Gefährte Bhagavāns in den Herzen aller Lebewesen weilt (SB 2.2.2).'
Wie handelte Śrīla Śukadeva Gosvāmī als ācārya? Sieben Tage und Nächte lang verteilte er ununterbrochen spirituellen rasa durch das Medium seines Ganges-gleichen hari-kathās. Dadurch, dass sie diese Nahrung für ihre Seele zu sich nahmen, wurden Hunderttausende Anwesende von materiellen Wünschen und von Hunger, Durst und Müdigkeit frei. Sie hörten mit gespannter Aufmerksamkeit zu und waren im Herzen vollständig zufrieden. Sie waren so vertieft in die Nektarthemen Śrī Haris, dass sie sogar vergaßen, wer oder wo sie waren. Sie hatten keinen anderen Wunsch mehr, als bei den Lotusfüßen Śrīla Śukadeva Gosvāmīs zu sitzen; ja sie hatten nicht die Kraft, ihn zu verlassen, selbst wenn sie es gewollt hätten. Dies ist das Merkmal eines ācāryas! Dies ist die Kraft eines reinen Gurus!"
Śrīla Gurudeva zitierte dann einen Vers aus dem Śrīmad-Bhāgavatam (10.2.4):
nivṛtta-tarṣair upagīyamānād
bhavauṣadhāc chrotra-mano-'bhirāmāt
ka uttamaśloka-guṇānuvādāt
pumān virajyeta vinā paśughnātDie Höchste Person wird von befreiten Meistern in der Schülernachfolge verherrlicht, die keine Anziehung zur Materie besitzen. Diejenigen, die nicht länger am falschen, zeitweiligen Lobpreis dieser kosmischen Manifestation interessiert sind, erfreuen sich an solchen Beschreibungen des Herrn. Sie sind die wahre Medizin für die bedingte Seele, die wiederholter Geburt und Tod unterworfen ist. Wer wird also solche Verherrlichung des Herrn nicht hören, außer einem Schlächter oder jemandem, der sein eigenes Selbst tötet?
Gurudeva sagte: "Der echte Guru nimmt Verantwortung auf sich, die Lebewesen aus ihrer Knechtschaft im saṁsāra zu befreien. Solange sie nicht von einem reinen Gottgeweihten, der gänzlich frei ist von weltlichem Verlangen, über die göttlichen Taten des Höchsten Herrn hören, können die bedingten Seelen weder von der materiellen Krankheit befreit noch mit der spirituellen Wirklichkeit verbunden werden. Ein reiner Guru wird seine Anhänger nicht in ihren anarthas bestärken oder sie lehren, weltlich motivierter Religiosität, wirtschaftlicher Entwicklung, Sinnesbefriedigung oder unpersönlicher Befreiung zu folgen und sie so ihres Glückes berauben. Anstatt solche Formen des Betrugs zu unterstützen, befreit der reine Guru die Menschen von illusorischen Anhaftungen an diese Welt, indem er ihnen Wissen über die wahre Identität ihrer Seele und über ihre Beziehung zur ewigen Welt vermittelt.
Ohne die Gnade Bhagavāns kann niemand einen reinen Guru treffen. Gewöhnliche Gurus hingegen, die die Menschen betrügen, indem sie falsche Religion, wirtschaftliche Entwicklung, Sinnesbefriedigung und unpersönliche Befreiung predigen, findet man häufig.
In einem allgemeinen Sinne trug Śrīman Mahāprabhu jedem auf, Guru zu werden. Für jemanden, der noch keine befreite Seele ist, besteht die Guru-Rolle darin, andere zu inspirieren, dem transzendentalen Pfad zu folgen und sie zur Zuflucht eines reinen Gurus zu führen, welcher in Form und Funktion ein ewiger Gefährte Rādhā-Kṛṣṇas ist. Diejenigen, die diesen Dienst ausführen, werden Guru genannt.
Es gibt fünf Arten von Gurus: (1) derjenige, der einen auf den spirituellen Weg bringt (vartma-pradarśaka-guru); (2) die Überseele im Herzen (caitya-guru); (3) der spirituelle Meister, der uns lehrt, wie man bhajana ausführt (bhajana-guru); (4) der unterweisende spirituelle Meister (śikṣā-guru); (5) und der einweihende spirituelle Meister (dīkṣā-guru). Wenn ein Guru, der sich auf einer niedrigeren Stufe der Hingabe und Verwirklichung befindet, seinen Schülern nicht rät, Schutz bei einem sad-guru, einer reinen und befreiten Seele, zu suchen, erfüllt er die Pflichten eines Gurus nicht richtig. Diejenigen, die nicht mit der bhāgavata-paramparā verbunden sind, die nicht unter spiritueller Führung handeln und kein sambandha-jñāna besitzen, denen es an der Kraft mangelt, die Lebewesen zu Gott nach Hause zu bringen, und die die Menschen nur täuschen, indem sie ihnen Glück in dieser Welt vorgaukeln, sind Betrüger, die den Titel Guru nicht verdienen. Sie locken Anhänger an, indem sie ihnen Wege weisen, ihr geistiges und körperliches Wohlbefinden zu steigern, aber sie unterrichten sie nicht über die Transzendenz und das letztliche Ziel des Lebens.
Ein echter Guru wird niemals denken, dass er selbst etwas Großes vollbracht hat. Er ist bescheiden und weiß, dass alles nur durch die Gunst und den Wunsch Bhagavāns zustande kommt. Er sieht sich selbst als ein Instrument, das beauftragt wurde, Gottes Barmherzigkeit zu verbreiten."
Es war etwa 8 Uhr morgens, als Śrīla Gurudeva seine Rede beendete. Śrīla Svāmī Mahārāja dankte ihm und deutete dann an, dass die Devotees mit kīrtana beginnen sollten. Seine Schüler drängten aus dem Raum hinaus auf die Veranda. Als der kīrtana intensiver wurde, sahen die Devotees sich um und spürten etwas Magisches im Raum und in der Umgebung. Klänge von Trompeten, Flöten, Hörnern, Muscheln und brāhmaṇas, die vedische Mantras rezitierten, erfüllten die Luft. Die meisten dachten, es handele sich um eine Art Prozession, die unten auf der Straße vorbeizog. Sie konnten nicht verstehen, warum sie sich so glückselig fühlten oder warum der kīrtana plötzlich so ekstatisch wurde.
Śrīla Svāmī Mahārāja und Śrīla Gurudeva saßen mit geschlossenen Augen und chanteten, wobei ihnen Tränen über die Wangen liefen. Vṛndāvana-Dhāma ist das transzendentale Reich, in dem Kṛṣṇas Spiele fortwährend stattfinden, allerdings können nur sehr vom Glück begünstigte Seelen dies sehen. Śrīla Svāmī Mahārāja und Gurudeva waren in vraja-līlā versunken und beobachteten zusammen mit den gopīs von einem versteckten Ort aus, wie Kṛṣṇa und Baladeva tanzend und singend mit den Kühen, Kälbern und unzähligen Freunden in den Wald zogen. Der Kṛṣṇa-Balarāma-Tempel befindet sich in Ramaṇa Retī, einem Gebiet, in das Kṛṣṇa und Baladeva ihre Kühe zum Weiden treiben. Dieses ewige Schauspiel des Kühe-Austreibens manifestierte sich im Kṛṣṇa-Balarāma-Tempel. Die reinen Gottgeweihten sind mit der līlā-śakti verbunden und deshalb in der Lage, alle ewigen Spiele zu manifestieren, sowie auch unsere Beziehung zum heiligen dhāma herzustellen.
Als sie die spirituellen Gefühle ihres göttlichen Meisters und seines Gefährten wahrnahmen, wuchs das Vertrauen der Schüler in Śrīla Svāmī Mahārāja stark an, wie auch ihr Vertrauen in Gurudeva. Sie konnten Kṛṣṇas Spiel nicht sehen, aber sie alle hörten den transzendentalen Klang und sahen Śrīla Svāmī Mahārāja und Gurudeva, wie ihnen die Tränen über die Wangen liefen. Der kīrtana dauerte eine halbe Stunde lang an, bis es Zeit für die śṛṅgāra-ārati war, die Begrüßung der Deities nach deren Ankleiden. Śrīla Svāmī Mahārāja und Gurudeva gingen nach unten und wohnten der ārati Kṛṣṇa-Balarāmas, Gaura-Nitāis und Rādhā-Śyāmasundaras bei. Danach nahmen sie ein einfaches Frühstück zu sich.
Śrīla Bhaktivedānta Svāmī Mahārāja hatte an diesem Tag um 11:00 Uhr Gelehrte und angesehene Vaiṣṇavas und Gosvāmīs aus Vraja zu einem Treffen eingeladen. Vanamālī Lāl Śāstrī, Rāma dāsa Śāstrī, Gaura Kṛṣṇa Śāstrī, Indupati Prabhu aus der Caitanya Gauḍīya Maṭha, Dīna Bandhu Bābājī Mahārāja aus Nandagāon, Kṛṣṇa dāsa Bābājī Mahārāja, die Rādhā-Ramaṇa Gośā̃is und einige ältere Schüler Prabhupāda Sarasvatī Ṭhākuras waren anwesend. Śrīla Svāmī Mahārāja kam aus seinem Zimmer und erwies den Gästen seinen Respekt. Er begrüßte und würdigte die ācāryas, sannyāsīs und Gośā̃is, und nachdem sie sich gegenseitig Ehre erwiesen hatten, nahmen sie ihre Plätze ein.
Rāma Dāsa Śāstrī sprach im Namen der Gelehrten: "Wir schätzen uns heute glücklich, Ihren darśana zu haben. Viele ācāryas predigten zuvor, aber meist waren sie hochmütig und nannten sich selbst Bhagavān. Sie haben etwas Überragendes vollbracht, indem Sie in so kurzer Zeit auf der ganzen Welt gepredigt und die Herzen tausender Menschen gewandelt haben. Sie wurden nie stolz, trotz Ihres großen Erfolgs. Deshalb beglückwünschen wir Sie. Bhagavān Śrī Kṛṣṇa manifestierte Vṛndāvana in Vraja, und Sie manifestierten Zweigstellen von Vṛndāvana überall auf der Welt! Sie sind zweifellos ruhmreich. Wir fühlen uns gesegnet, hier mit Ihnen zusammensitzen zu können."
"Es ist mir nie in den Sinn gekommen, mich von euch zu distanzieren", antwortete Śrīla Svāmī Mahārāja. " Würde ich mich jemals von euch und von Vraja abwenden, dann wäre dies mein Verderben, denn ich würde mich eurer Gnade und eures Segens berauben und stolz werden. Aus diesem Grund bleibe ich immer bei den Gottgeweihten. Ich weiß, dass ihr Gefährten Bhagavāns seid. Bhagavān hat mir gütigerweise eine Beziehung zu euch geschenkt. Bitte verwehrt mir nicht eure Zuneigung. An dem Tag, an dem ihr mir übermäßig Ehre und Respekt erweist, weiß ich, dass ihr mir eure Gnade vorenthaltet. Solange ihr mir dagegen Zuneigung wie einem nahen Verwandten schenkt, sind auch Bhagavāns Segnungen mit mir. Wie könnte ich allein den Lebewesen helfen? Bhagavāns kṛpā-śakti, Seine Barmherzigkeitsenergie, hat mich in Ihren süßen Willen und sevā beschäftigt, und wenn ihr diesen kleinen Dienst annehmt, so ist dies ein Segen für mich."
Die Gośā̃is kannten Śrīla Gurudeva und begannen sich mit ihm zu unterhalten. Nachdem sie sich gegenseitig begrüßt hatten, baten sie Gurudeva, ein paar Worte zu sprechen.
Śrīla Gurudeva ergriff das Wort: "Es ist nicht möglich, zu predigen, ohne von Bhagavāns Kraft ermächtigt zu sein – kṛṣṇa-śakti vinā nahi tāra pravartana (Caitanya-Caritāmṛta, Antya 7.11–12). Ein weltlicher Mensch vermag das nicht. Bhagavāns śakti geht in eine qualifizierte Person ein, und durch Bhagavāns Wunsch und Kraft kann dieser sodann die rebellische Haltung der bedingten Lebewesen ändern. Die spirituelle Kraft erweckt die wahre Natur der Lebewesen und verbindet sie mit Kṛṣṇa, Vraja, und den Vrajavāsīs. Dies ist die Wirkung der spirituellen Kraft. Das Bemühen eines gewöhnlichen Menschen, andere zu ändern, ist erfolglos. Auch wenn er sie anweist, dem spirituellen Leben zu folgen, werden sie nicht willens oder fähig sein, ihm zu folgen. Wenn jemand dagegen von Bhagavāns śakti ermächtigt wird, kann er die bedingten Seelen aus māyā befreien und zum Dienst der Lotusfüße Bhagavāns bringen. Eine solche Person wird śāktyāveśa-avatāra genannt, eine ermächtigte Inkarnation. Wenn eine solche ermächtigte Person predigt, tut sie das ohne falsches Ego, andere hingegen, die aus eigener Kraft predigen, werden stolz. Śrīla Svāmī Mahārāja ist gewiß ein śāktyāveśa-avatāra, denn sonst hätte er nicht so machtvoll in so kurzer Zeit predigen können."
Als die Gośā̃is dies hörten, riefen sie aus: "Sādhu, sādhu, das ist gewiss die Wahrheit." Die paṇḍitas und Gośā̃is stimmten Gurudevas Auffassung zu; einige der Gauḍīyas jedoch waren aufgebracht und anderer Ansicht. Später forderten sie Gurudeva heraus: "Wie kannst du es wagen, Svāmī Mahārāja einen śāktyāveśa-avatāra zu nennen!"
Śrīla Gurudeva antwortete: "In gleicher Weise wie Bhagavān verehrungswürdig ist, so sind auch Seine Geweihten verehrungswürdig, die Beziehung und Liebe zu Ihm schenken können. Bhagavān wird durch die Hingabe Seiner Geweihten beherrscht. Solche Gottgeweihten sind eine Manifestation der svarūpa-śakti. Die Gauḍīya Vaiṣṇavas akzeptieren die Auffassung von śakti-parināma-vāda, der zufolge alle Lebewesen Umwandlungen von śakti oder Kṛṣṇas Energie sind. Ohne die Gnade und Kraft von Rādhārānī kann niemand die Hingabe zu Kṛṣṇa predigen. Praktizieren ist nicht gleichbedeutend mit Predigen. Nur jemand, der mit der spirituellen Welt verbunden ist, kann diese Verbindung an andere weitergeben. Seht selbst! Śrīla Bhaktivedānta Svāmī Mahārāja erfüllte den innigsten Wunsch Caitanya Mahāprabhus. Er erschuf überall auf der Welt Zweigstellen Vṛndāvanas, in denen bedingte Seelen im Dienst Rādhā-Kṛṣṇas ausgebildet werden können. Śrīla Svāmī Mahārāja pflanzte die Samen von kṛṣṇa-sevā-vāsanā, dem Wunsch, Kṛṣṇa zu dienen, uneingeschränkt und weithin in die Herzen der Lebewesen. Für dieses große Werk ist ihm die ganze Welt zu Dank verpflichtet. Ihn einfach zu treffen, erfüllt mein Herz mit Freude! Viele haben gepredigt, aber keiner so kraftvoll und weitreichend wie er.
"Ohne von der Göttlichen Energie ermächtigt zu sein, kann niemand erreichen, was Śrīla Bhaktivedānta Svāmī Mahārāja in so kurzer Zeit gelang. Solange Bhagavāns śakti nicht im Innern wirkt, kann niemand bhakti ausüben oder den Weg der bhakti für andere erhellen. Selbst wenn man sein eigenes Kind, seinen Nachbarn oder seine Mitbürger anhält, bhakti zu folgen, werden sie nicht zuhören; aber wenn ein reiner Gottgeweihter einfach nur spricht: 'Chante harināma, folge Ekādaśī', beginnen alle zu folgen. Diejenigen, die Millionen von Leben gegen Bhagavān waren, beginnen plötzlich den bhakti-Vorgang, indem sie Ekādaśī einhalten, harināma chanten, hari-kathā hören, mahā-prasāda ehren und andere Arten der Hingabe praktizieren; einfach durch die Worte und die Nähe eines großen Gottgeweihten."