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ach der Vedischen Tradition ist es Brauch, dass brāhmaṇa-Jungen zwischen dem siebten und dem elften Lebensjahr den Gāyatrī-mantra und die Heilige Schnur erhalten. Wächst dem Jungen schon ein Schnurrbart, ist es für die Zeremonie zu spät. Im Alter von neun Jahren war es für Gurudeva an der Zeit, die Heilige Schnur zu erhalten. Sein Vater rief ihn zu sich und sagte: „Sohn, es ist die Zeit für dein upanayana-saṁskāra. Der Sohn meines Gurus wird kommen, dich in das Mantra einweihen, das yajña durchführen und dir die Heilige Schnur überreichen.“
„Pitājī“, antwortete Gurudeva, „ich werde mich von ihm einweihen lassen, wenn er meine Fragen zufriedenstellend beantwortet. Wie kann ich andernfalls Vertrauen in ihn haben? Er muss mir die Bedeutung des Mantras erklären können, wer die Gottheit des Mantras ist und wie ich eine Beziehung zu Ihm herstellen kann. Warum sind wir von Ihm getrennt? Warum beachtet Er uns nicht und warum müssen wir zu Ihm für eine Beziehung beten? Ist Er nicht schon mit uns verbunden?“
Panditajī entgegnete: „Lass solch anmaßendes Fragen und nimm einfach das Mantra an.“
„Ich werde Einweihung von einer selbstverwirklichten Seele annehmen, die meine Zweifel beseitigen kann“, sagte Gurudeva.
„Unser Familienguru ist ein anerkannter ācārya, und nach unserem Brauch muss sein Sohn dir Mantra-Einweihung geben“, erwiderte Paṇditajī.
„Ja, ich werde das Mantra annehmen, aber nur von jemandem, der Verwirklichung besitzt.“
Einige Tage später kam Śrikānta Miśra, der Sohn des Familiengurus, zum Haus der Tiwaris. Gurudeva lud ihn respektvoll ein, bot ihm einen Sitz an, wusch seine Füße und bat ihn, eine Frage stellen zu dürfen. Śrīkānta Miśra war einverstanden.
Gurudeva fragte dann: „In den Vedischen Schriften heißt es: ‚athāto brahma jijñāso – Deshalb sollten wir Fragen über Brahman stellen.‘ Wer ist Parabrahma, das Höchste Wesen? Ist Kṛṣṇa Parabrahma, oder Nārāyaṇa, Rāma, oder Hari? Wie kann ich verwirklichen, wer Er ist und mich Ihm nähern? Wo lebt Er und wie kann ich eine Beziehung mit Ihm eingehen?“
Nervös und außerstande, zu antworten, begann Śrīkānta Miśra zu schwitzen wie in einer Prüfung. Gurudeva fragte weiter: „Tulasīdāsa nahm Hanumān als Guru an. Dann war es ihm möglich, Śrī Rāma zu begegnen. Können Sie das auch? Wenn ich das Mantra, das Sie mir geben, chante, wird Rāma dann erfreut sein und direkt vor mir erscheinen? Sind Sie dazu in der Lage?“
„Der eigene Guru sollte nicht in Frage gestellt werden“, tadelte ihn Śrīkānta Miśra.
„Haben sie Bhagavān verwirklicht?“
„Du solltest deinem Guru ergeben sein“, erwiderte Śrīkānta Miśra.
„Wenn ich mich Ihnen ergebe“, wollte Gurudeva weiterwissen, „welchen spirituellen Nutzen erlange ich? Werde ich aus dem Kreislauf von Geburt und Tod befreit? Werde ich Bhagavān und meine spirituelle Identität verwirklichen?“
Śrīkānta Miśra zitterte. Er sagte: „Ich werde deine Fragen später beantworten. Jetzt muss ich noch etwas Wichtiges erledigen.“ Dann lief der Junge zu seinem Vater nach Hause, ohne etwas zu essen oder sich auszuruhen.
Paṇḍita Tiwari und Lakṣmīdevī schimpften mit ihrem Sohn: „Du hast deinen Guru missachtet. Das ist sehr unglückverheißend. Was, wenn ein Fluch unsere Familie trifft?“
„Ich habe ihn nicht beleidigt“, verteidigte sich Gurudeva, „ich habe ihm nur einige sachliche Fragen gestellt und er sagte, er wolle sie später beantworten. Dann musste er schnell gehen. Was kann ich dafür?“
„Ich werde unseren Gurujī einladen, um mit dir zu reden“, entschied Paṇditajī. „Wenn er kommt, dann hör ihm respektvoll zu und widersprich nicht.“
Später kam Śrīkānta Miśras Vater. Śrīla Gurudeva und sein Vater dienten ihrem Familienguru, wie es angemessen war. Sie boten ihm einen Sitz an und setzten sich bescheiden zu seinen Füßen. Paṇḍita Miśra forderte Gurudeva auf: „Śrīman Nārāyaṇa, stell deine Fragen.“
„Gurujī, was ist die Pflicht des Menschen?“
„Man sollte entsprechend dem varnaśrama-dharma seine Aufgaben in der Gesellschaft erfüllen. Heirate und sorge für deine Frau und deine Kinder. Gott wird mit dir zufrieden sein, wenn du deiner Familie dienst.“
Gurudeva dachte über Paṇḍita Miśras Worte nach und fragte dann: „Gurujī, werde ich für immer mit meiner Familie zusammen sein? Wenn der Dienst zur Familie Gott erfreut, warum scheint dann jeder mit seinem Familienleben so unzufrieden zu sein? Ich sehe, dass die Menschen versuchen, glücklich zu sein, aber dennoch unzufrieden bleiben. Alle Lebewesen kommen zur Welt, leben für kurze Zeit, sterben dann und werden wiedergeboren. Warum wandern sie wiederholt in diesem Kreislauf des saṁsāra?“
„Sie erleiden die Ergebnisse ihres karmas“, antwortete Paṇḍita Miśra.
„In allen Lebensformen erhält die Seele die Ergebnisse ihres karmas. Was ist das Besondere an der menschlichen Geburt?“
„Du kannst das noch nicht verstehen. Du bist nur ein kleines Kind.“
„Gurujī, wenn Sie die Antwort kennen, was ist schlimm daran, sie mir zu verraten?“
„Du bist noch ein Kind und es mangelt dir an Disziplin. Wie willst du solche hohen Themen verstehen? Sei einfach ein gehorsamer Sohn, diene deinen Eltern und Vorgesetzten, gehe zur Schule und spiele mit deinen Freunden. Warum machst du dir so viele Gedanken? Wenn du älter wirst, kannst du dich mit Philosophie beschäftigen.“
„Bitte seien Sie mir wohlgesonnen. Sie sind ein großer Gelehrter. Ich kann meine Wissbegierde nicht zügeln. Ich habe im hari-kathā gehört, dass die Seele ewig ist und nicht altert. Warum also müssen wir das Leid von wiederholter Geburt und Tod in diesem Körper ertragen?“
„Sohn“, unterbrach ihn Paṇḍitajī, „welchen Sinn hat es, jemanden in ein Netz von Fragen zu verstricken? Warum sagst du uns nicht lieber, was du denkst?“
„Ja, Vater. Ich denke, wir sind in dieser Welt, weil wir uns von Gott abgewandt haben. Weil wir ihn und unsere wahre Identität vergessen haben, leiden wir und irren durch das Rad des saṁsāra. Der Sinn des menschlichen Lebens besteht darin, die Absolute Wahrheit zu verstehen, indem wir Zuflucht bei jemandem suchen, der Liebe und eine Beziehung zu Bhagavān besitzt. Wenn wir uns unter solcher Führung dem spirituellen Leben widmen, können wir Liebe zu Gott erlangen und in Sein ewiges Reich des Glücks eintreten.“
Überrascht von Śrīman Nārāyaṇas Weisheit, sagte Paṇḍita Miśra: „Im Laufe der Zeit wirst du durch Gottes Gnade alles verstehen. Jetzt muss ich zurück zu meinem āśrama.“ Nach diesen Worten verabschiedete sich der Guru.
Nachdem der Familienguru ihr Haus verlassen hatte, wandte sich Paṇḍitajī an seinen Sohn: „Sieh, Nārāyaṇa, falls du nicht den gāyatrī-mantra und die Heilige Schnur annimmst, wird es dir nicht erlaubt sein, die Bildgestalt zu verehren, die Veden zu studieren oder öffentlich die Aufgaben eines brāhmaṇas wahrzunehmen. Nimm für jetzt die Heilige Schnur an, in der Zukunft mag es passieren, dass du einem transzendentalen Guru wie Śukadeva Gosvāmī begegnest.“ Gurudeva respektierte den Wunsch seines Vaters und ein glückverheißender Tag wurde für die Zeremonie ausgesucht. Viele brāhmaṇas nahmen teil und wurden von der Familie gebührend geehrt.
Als alles gemäß der seit Generationen überlieferten Tradition vorbereitet war, verneigte sich Gurudeva vor den Priestern und den brāhmaṇas. Dann bat er demütig: „Bevor ich die Heilige Schnur annehme, würde ich gerne etwas über die Bedeutung davon erfahren. Sie sind erleuchtete Seelen, bitte vertreiben sie gütigerweise meine Zweifel. Trägt Hanumān eine brāhmaṇa-Schnur? Trägt Nārada Ṛṣi, Śrīla Śukadeva Gosvāmī oder der große Krähengeweihte Śrī Rāmas, Śrī Kākabhuśuṇḍi, eine? Können auch Leute, die nicht der brāhmaṇa-Kaste angehören, Gott dienen und Selbstverwirklichung erlangen, auch wenn sie keine Heilige Schnur tragen? Wenn dem so ist, worin liegt dann der Nutzen dieser Zeremonie und warum muss die Schnur getragen werden?“
Ein Paṇḍita erklärte: „Um Wissen aus den Veden zu erlangen, muss man sich Śrī Viṣṇu in der Gegenwart des Heiligen Feuers ergeben und die brāhmaṇa-Schnur empfangen. Śrī Viṣṇu ist der Herr aller Opfer und der höchste Genießer aller Entsagungen und spirituellen Praktiken. Wenn man Ihm sein Herz in Anwesenheit des Feuers darbringt, das als Zeuge fungiert, wird Śrī Viṣṇu die Fähigkeit verleihen, Vedisches Wissen zu verstehen, einschließlich des Wissens über das Selbst und über den Höchsten Herrn.“
Der Paṇḍita führte weiter aus: „Die Zeremonie ist ein äußeres Ritual, das bei dem inneren Vorgang hilft, das Herz und die Wünsche Bhagavān darzubringen. Für jemanden, der als Mensch geboren wurde, es ist notwendig, eine Beziehung zu Bhagavān und Seinen Geweihten herzustellen. So lange man keine Beziehung zu Bhagavān besitzt, ist auch keine Beziehung zu bhakti vorhanden, oder zu denen, die bhakti besitzen. Wenn man sein Herz Śrī Viṣṇu darbringt, offenbart sich Wissen über Seine Energien und Seine geliebten Geweihte. Vor diesem Ritual ist man unabhängig und ohne Beschützer; das Annehmen der Schnur erinnert uns daran, unser Herz mit Gott zu verbinden.“
„Ich bin sicher, dass dies wahr ist“, sagte Gurudeva. „Aber hat jeder, dem die Heilige Schnur verliehen wurde, Wissen vom Selbst und den Veden erlangt? Sind sie Bhagavān begegnet? Wenn ja, dann ist diese Tradition sehr segensreich. Ansonsten aber wird man hochmütig werden, dass man ein eingeweihter brāhmaṇa ist, weil man an der Zeremonie teilgenommen hat und jetzt eine Schnur trägt. Was ist die Wahrheit? Wie wird man tatsächlich Wissen von dem Selbst und den Veden erlangen? Wie kann ich eine liebevolle Beziehung zu Gott aufbauen? Wenn ich diese brāhmaṇa-Schnur trage, wird all meine Anziehung zu materiellen Dingen verschwinden und reine Liebe zu Gott in der Seele erwachen?“
Ein anderer brāhmaṇa-Priester riet: „Nimm für jetzt die Heilige Schnur an und lebe friedlich mit deinen Verwandten zusammen. Heirate, arbeite und ernähre eine Familie. Die Jugend ist nicht die Zeit, in der man sich Gedanken über Hingabe zu Gott zu machen braucht. Im Alter kannst du dich der Selbstverwirklichung und der Liebe zu Gott widmen. Wenn du aber die brāhmaṇa Schnur jetzt nicht annimmst, wird dir im Alter die Grundlage fehlen, auf der du aufbauen kannst. Für jetzt ist es am besten für dich, allmählich fortzuschreiten.“
Śrīla Gurudeva war immer noch unzufrieden: „Wenn Bhagavān die Absolute Wahrheit ist, warum sollten wir damit zögern, mit Ihm zusammen zu sein?“
Ein gelehrter und hingegebener Vaiṣṇava-sādhu hörte dem Gespräch zwischen Śrīman Nārāyaṇa und den Priestern zu. Er wandte sich an Śrīla Gurudevas Eltern: „Ihr Sohn ist kein gewöhnlicher Junge“, sagte er. Seinem Charakter nach zu urteilen, denke ich, dass er ein großer Heiliger oder ein Gefährte Gottes ist. Gewöhnliche Kinder zeigen nicht eine solche Ausdauer, derartige Themen tiefgründig zu verstehen. Sie besitzen nicht die Intelligenz dazu. Sie sind vom Glück begünstigt, ihn als Sohn zu haben. Später einmal wird er Liebe zu Gott auf der Welt predigen und viele werden vertrauensvoll seine Zuflucht und Führung annehmen.“
Paṇḍita Baleśvaranātha und Śrīyuta Lakṣmīdevī verschlug es die Sprache, dies zu hören. Der Vaiṣṇava-sādhu ging zu Gurudeva und streckte seine Hand aus, um dessen Füße zu berühren. Gurudeva sprang erschrocken zurück und verneigte sich stattdessen vor dem sādhu. Er berührte demütig dessen Füße und betete: „Bitte segnen Sie mich.“
Der Vaiṣṇava-sādhu segnete Gurudeva und unterhielt sich längere Zeit mit ihm. Zum Abschluss der Zeremonie wurden Spenden an alle verteilt.
Nachdem Śrīla Gurudeva die Heilige Schnur erhalten hatte, ging er als Darbringung für den Familienguru Almosen sammeln. Der Tradition gemäß muss ein Junge, der in die Heilige Schnur eingeweiht wird, für eine Weile als brahmacārī im āśrama des Gurus leben. Indem er dort dem Guru aufmerksam mit Körper, Geist und Worten dient, kann er die Vollkommenheit im Mantra erlangen.
Für sieben Tage, so wie es Brauch war, blieb Gurudeva im Haus seines Familiengurus. Während er dort wohnte, hielten der Sohn des Gurus und dessen Freunde Abstand von ihm. Wenn er seinen Guru etwas fragte, erhielt er nur knappe Antworten. Er verbrachte seine Zeit damit, die Vedischen Schriften zu studieren. Einmal hatte er gelesen, dass der einzig wahre Freund in dieser Welt ein reiner Gottgeweihter ist und jetzt erwachte durch sein Studieren ein tiefer Wunsch in ihm, solch eine Persönlichkeit zu treffen. „Wo kann ich Wissen über die Seele und über Gott bekommen?“ überlegte er. Gurudeva fühlte sich allein und betete intensiv, mit reinen Gottgeweihten in Kontakt zu kommen.
Die brahmacārīs dort aßen haviṣyānna, eine einfache Speise aus gekochtem Reis, Dāl und Gemüse. Śrīla Gurudeva diente im āśrama, studierte und badete in der Gaṅgā. Nach sieben Tagen in Majariya-Gaon brachte ihn seine Familie mit einem festlichen Umzug zurück nach Hause. Sie fragten: „Hast du deinen Guru auch nicht gestört?“
„Wenn hätte ich stören können?“, erwiderte er. „Niemand hat mit mir geredet. Ich muss eine selbsverwirklichte Seele finden, die mich führt. Ich werde nicht mein Leben verschwenden.“
„Es ist deine Pflicht, bei deiner Familie zu bleiben und den Älteren zu dienen“, erinnerten ihn seine Eltern.
Gurudeva nahm die Anweisungen seiner Eltern an, in seinem Herzen aber wuchs der Wunsch, einem reinen Gottgeweihten zu begegnen.