Merkmale eines Sādhus
Śrīla Gurudeva genoss es, von Śrīpāda Narottamānanda Prabhu zu hören, und in seinem Herzen wuchs die Begierde, sein Leben der Praxis reinen hingebungsvollen Dienstes zu widmen. Jemand, der begierig nach reiner Liebe ist, hegt keinen anderen Wunsch mehr. Bienen und Kolibris sind vom Nektar der Blumen angezogen, Geier und Schakale dagegen erfreuen sich an Kadavern. In ähnlicher Weise suchen heilige Menschen den Nektar reine Liebe, während gottlose Menschen nach grober Sinnenfreude trachten.
Als Śrīla Gurudeva Narottamānanda Prabhu traf, erinnerte er sich an den Yogī, der ihm in seiner Kindheit begegnet war und der ihm prophezeit hatte, dass er einst, nachdem er mit reinen sādhus in Kontakt gekommen war, sein Familienleben aufgeben würde. Deshalb befragte er Śrīpāda Narottamānanda Prabhu über die Eigenschaften eines echten Heiligen.
„Woran erkennt man einen reinen sādhu?“, fragte Gurudeva.
Śrīpāda Narottamānanda Prabhu antwortete: „Ein echter sādhu ist vollkommen ausgeglichen und immer in Gedanken an Gott vertieft. Arjuna fragte Kṛṣṇa in der Bhagavad-Gīta (2.54): ‚Keśava, welches sind die Merkmale eines Menschen, dessen Intelligenz in reinem Bewusstsein gefestigt ist?‘
Kṛṣṇa antwortete in vier Versen:“
Pārtha, jemanden, der sämtliche Wünsche aufgibt, die ihm in den Geist kommen, und der in seinem beherrschten Geist glücklich und darin erfüllt ist, sein spirituelles Selbst zu blicken – ihn nennt man sthita-prajña, einen Menschen von gefestigter Intelligenz. Wer ungestört bleibt, auch wenn ihm sein Körper, sein Geist oder andere Menschen Leid zufügen, der dem sinnlichen Glück gegenüber, das er erfährt, keine Anziehung verspürt und frei ist von Anhaftung, Angst und Zorn, ist sthita-dhīḥ (von stetem Geist) oder sthita-prajña. Derjenige ist von gefestigter Intelligenz, der zu nichts Materiellem Zuneigung verspürt und der an materiellem Glück und Unglück, die ihm widerfahren, weder anhaftet noch sich daran stört. So wie eine Schildkröte ihrem Wunsch gemäß ihre Gliedmaßen nach innen zurückzieht, kann auch der sthita-prajña, dem Wunsch seiner Intelligenz entsprechend, die Sinne entweder fixieren oder auf angemessene Weise beschäftigen. Jemand, der sich mit seinem Körper identifiziert, mag sich künstlich von Sinnesbefriedigung fernhalten, aber der Geschmack an den Sinnesfreuden bleibt. Wenn er jedoch einen höheren Geschmack erfährt, in anderen Worten, wenn er die Höchste Seele verwirklicht, verschwindet sein Geschmack an den Sinnesobjekten von allein.
Narottamānanda Prabhu fuhr fort: „Weltlich gesinnte Menschen sind süchtig nach Sinnengenuss, und sie lügen, betrügen und sündigen dafür in vielerlei Weise. Sādhus, die mit ihnen in Kontakt kommen, stellen sich deshalb äußerlich dumm, um sich nicht mit Wünschen der Materialisten abgeben zu müssen. Im Inneren aber vertiefen sich die sādhus unablässig im Gottes Dienst und in passender Gesellschaft offenbaren sie ihren Dienst auch äußerlich. Um sādhus richtig zu verstehen, muss man um die Gnade des Herrn bitten. Durch Gottes Barmherzigkeit begegnet man einem reinen sādhu und durch die Barmherzigkeit der Sādhus begegnet man Gott.“
Narottamānanda Prabhu zitierte Verse zur Verherrlichung der sādhus:
sādhu-saṅga’, ‘sādhu-saṅga’— sarva-śāstre kaya
lava-mātra sādhu-saṅge sarva-siddhi haya
Caitanya-caritāmṛta, Madhya 22.54
Alle offenbarten Schriften verkünden, dass schon ein Moment Gemeinschaft mit einem sādhu alle Vollkommenheit schenken kann.
tulayāma lavenāpi na svargaṁ nāpunar-bhavam
bhagavat-saṅgi-saṅgasya martyānāṁ kim utāśiṣaḥ
Śrīmad-Bhāgavatam 1.18.13
Selbst auf die himmlischen Planeten erhoben oder vom materiellen Dasein befreit zu werden, kann man nicht einmal mit einem Augenblick der Gemeinschaft mit Kṛṣṇas reinen Geweihten vergleichen; von den Segnungen für Normalsterbliche ganz zu schweigen.
sādhavo hṛdayaṁ mahyaṁ sādhūnāṁ hṛdayaṁ tv aham
mad-anyat te na jānanti nāhaṁ tebhyo manāg api
Śrīmad-Bhāgavatam 9.4.68
Śrī Viṣṇu sagte: ‚Der sādhu wohnt immer in Meinem Herzen und Ich wohne immer in seinem. Meine Geweihten kennen nichts außer Mir und Ich kenne nichts außer ihnen.‘
Narottamānanda Prabhu schloss: „Gott ist immer im Herzen der Sādhus anwesend. Sobald man die Gemeinschaft von sādhus aufsucht, ist es sicher, dass man Gott begegnet.“
„Das ist wahr“, stimmte Gurudeva zu. „Sie sind so ein sādhu, bitte segnen Sie mich.“
„Ich folge nur in den Fußspuren der sādhus.“
„Ich fühle mich gesegnet und glücklich, dass ich Sie treffen durfte.“
„Śrī Guru-Pādapadma ist ein Ozean der Liebe“, sagte Narottamānanda Prabhu. „Ich verteile nur einen Tropfen Nektar aus diesem Ozean.“
„Prabhu“, bat Gurudeva, „sagen Sie mir bitte: Wer ist Ihr Guru und wo leben Sie?“
„Ich bin ein Schüler paramārādhyatama Śrī Śrīmad Bhaktisiddhānta Sarasvatī Ṭhākura Prabhupādas. Auf seine Anweisung hin reise ich umher und verbreite den Ruhm des mahā-mantras, um denen, die im materiellen Leben leiden, dauerhaft zu helfen. Seit mein geliebter Śrī Guru-Pādapadma in die spirituelle Welt zurückging, diene ich unter der Leitung seines engen Dieners Śrīla Bhaktiprajñāna Keśava Mahārāja in der Gauḍīya Vedānta Samiti, die er gegründet hat. Śrīla Bhaktiprajñāna Keśava Mahārāja ist ein furchtloser Prediger der Wahrheit, der entschieden alle Auffassungen widerlegt, die reiner Hingabe entgegenstehen. Deshalb kennt man ihn als Ācārya Kesarī, den löwengleichen ācārya. Sie sollten kommen und ihn treffen. Unser Haupttempel ist die Devānanda Gauḍīya Maṭha in Navadvīpa-Dhāma. Sie sind dort jederzeit willkommen.“
„Ich werde Sie gewiss besuchen“, antwortete Śrīla Gurudeva.
„Bitte kommen Sie“, sagte Narottamānanda Prabhu. „Ich bin sicher, dass es sie im Herzen zufriedenstellen und glücklich machen wird. In der Gemeinschaft reiner Gottgeweihter zu leben, stellt das Selbst zufrieden, der Umgang mit materialistischen Menschen dagegen verursacht nur Leid. Weltliche Menschen dürsten nach Sinnesfreude und sind immer auf der Jagd nach dem, was ihre Wünsche befriedigt. Wie Tiere, die eine Luftspiegelung für Wasser halten und sich in die Wüste verirren, ohne jedoch Wasser zu finden, lassen sie sich von ihrer Sehnsucht nach Genuss blenden, ohne je glücklich zu werden. Die reinen Gottgeweihten, von Śrīmatī Rādhārāṇī mit göttlicher Liebe ermächtigt, verehren Kṛṣṇa und verbreiten den Vorgang, Liebe zu Kṛṣṇa zu erlangen und das Selbst zufriedenzustellen. Caitanya Mahāprabhu stieg herab, um die Welt mit solcher Liebe zu überfluten.“
Śrīla Gurudeva sprach mit Śrīpāda Narottamānanda Prabhu jeden Abend nach dem öffentlichen Programm. Am Ende des letzten Tages verabschiedete er sich mit den Worten: „Es ist mein großes Glück, dass ich Ihnen begegnen durfte. Ich hoffe, bald mehr Zeit mit Ihnen verbringen zu können.“
„Es war mir eine Ehre, Sie zu treffen“, antwortete Narottamānanda Prabhu. „Man begegnet nur selten jemandem, der begierig nach reiner bhakti ist. Sie sind qualifiziert und gesegnet. Ich bin überzeugt, dass Sie sich bald unserem Predigen anschließen werden.“
„Wie das?“, dachte Gurudeva. „Ich stamme aus einer brāhmaṇa-Familie und bekleide einen hohen Regierungsposten. Wie könnte ich von Tür zu Tür betteln gehen?“
Śrīla Gurudeva verneigte sich vor den Gottgeweihten und reiste dann ab. Er dachte über Narottamānanda Prabhus Unterweisungen nach und seine Begierde, Śrīla Bhaktiprajñāna Keśava Gosvāmī Mahārāja zu treffen, wuchs von Tag zu Tag. Spirituelle Anziehung hat große Kraft. Weltliche Leute warnen: „Halte mindestens hundert Meter Abstand zu sādhus, denn sie werden dein Familienleben ruinieren und dir deine Freude an den Dingen der Welt nehmen. Wo immer ein sādhu hinkommt, macht er alle anderen auch zu sādhus. Wenn dir also dein jetziges Leben lieb ist, dann meide sie um jeden Preis.“
Als Narottamānanda Prabhu nach Navadvīpa-Dhāma zurückkehrte, berichtete er Śrīla Keśava Gosvāmī Mahārāja von Gurudeva: „Wir sind einem Polizeikommissar namens Nārāyaṇa Tiwari begegnet. Er ist ein gelehrter brāhmaṇa und begierig, sich dem spirituellen Leben zu verschreiben. Als er von dir gehört hat, wünschte er sich, dich zu sehen.“
Śrīla Bhaktiprajñāna Keśava Gosvāmī Mahārāja war darüber sehr erfreut und prophezeite: „Er wird bald kommen.“