Begeg­nung mit dem gött­li­chen Meister

Śrīla Guru­deva ver­ließ sein Zuhause in Tiwa­ripur noch vor Son­nen­un­ter­gang. Spät in der Nacht sollte er in Nav­ad­vīpa (in Ben­galen) ankommen. Er hatte Śrīla Bhak­ti­pra­j­ñāna Keśava Gos­vāmī Mahārāja, auch als Ācārya Kesarī oder Ācārya­deva bekannt, über seine Ankunft vorher nicht infor­miert. Doch die ewigen Gefährten Gottes sind durch eine untrenn­bare Herz-zu-Herz-Beziehung mit­ein­ander ver­bunden und des­wegen wusste Ācārya Kesarī, dass sein geliebter Schüler bald kommen würde. Um elf Uhr nachts rief er Sajjana-Sevaka Brah­macārī zu sich: „Saj­jana, geh zum Bahnhof. Nārāyaṇa Tiwari wird bald ein­treffen. Er ist ein groß­ge­wach­sener Poli­zist, mit dickem Schnurr­bart und einem weißen Anzug. Nimm eine Laterne mit und bring ihn zum Tempel.

Ja, Guru Mahārāja“, ant­wor­tete Sajjana-Sevaka.

Er ging zum Bahnhof und war­tete auf die Ankunft des Zuges. Nachdem der Zug ein­ge­fahren war, rief er laut in die Menge: „Tiwa­rijī! Wer ist Tiwarijī?“

Züge waren in jenen Tagen eine Neu­ig­keit und fuhren nicht oft. Viele Dorf­be­wohner rei­sten mit den Zügen ein­fach aus Neu­gier und so stieg eine große Menge Leute aus. Die ein­zige Beleuch­tung auf dem Bahnhof bestand aus Kero­sin­lampen, die in Abständen brannten. Mit nur ein wenig Gepäck in einer Akten­ta­sche stieg Śrīla Guru­deva aus und begab sich zum Schalter, um zu fragen, wie er zur Devān­anda Gauḍīya Maṭha gelangen konnte. In Nav­ad­vīpa gab es viele Tempel. Er würde im Dun­keln lange nach dem Rich­tigen suchen müssen.

Sajjana-Sevaka lief den Bahn­steig auf und ab und rief laut: „Tiwa­rijī! Wer ist Tiwa­rijī? Tiwarijī?“

Als er seinen Namen hörte, kam Śrīla Guru­deva aus dem Bahn­ge­bäude und sah dort Sajjana-Sevaka. „Ich bin Tiwa­rijī. Woher kennen Sie meinen Namen?“, fragte er. Sajjana-Sevaka schaute Śrīla Guru­deva erstaunt an. Er war von großem Wuchs, besaß golden schim­mernde Haut, schöne blauen Augen, einen beein­druckenden Schnurr­bart und trug einen makellos weißen Anzug.

Mein Guru Mahārāja hat mich geschickt, Sie abzu­holen“, erklärte Sajjana-Sevaka.

Wer ist Ihr Guru Mahārāja?“

Śrīla Bhak­ti­pra­j­ñāna Keśava Gos­vāmī Mahārāja.“

Guru­deva war über­rascht: „Wie wusste er, dass ich komme? Ich habe nie­manden benachrichtigt.“

Mein Guru Mahārāja kennt Ver­gan­gen­heit, Gegen­wart und Zukunft. Er hat mich dar­über infor­miert, dass Sie ein­treffen und mir auf­ge­tragen, Sie zum Tempel zu bringen, denn Nav­ad­vīpa ist eine große Stadt und es ist schon spät.“

Mit der Laterne leuch­tend brachte Sajjana-Sevaka Śrīla Guru­deva zur Devān­anda Gauḍīya Maṭha. Ācārya Kesarī war wach geblieben und hatte vor seinem Zimmer auf Nārāyaṇa Tiwari gewartet.

Als sie ankamen, brachte Śrīla Guru­deva Ācārya Kesarī seine aus­ge­streckten Ehr­erbie­tungen dar. Dieser hob ihn sogleich hoch und umarmte ihn. Ācārya Kesarī war eben­falls hoch­ge­wachsen, von ern­stem Wesen und sein Körper schim­merte golden und war weich wie Butter. Auch Śrīla Guru­deva war kräftig gebaut und von ern­ster Natur. Als sie sich so gegen­über­standen, schmolzen ihre Herzen vor gegen­sei­tiger Zunei­gung. Sie begannen zu weinen wie zwei Ver­wandte, die sich nach langer Tren­nung wiedersahen.

treffen-gurudeva-und-paramgurudeva

Dies ist ein Bei­spiel für die Bezie­hung zwi­schen einem reinen Guru und einem reinen Schüler. Die Seele wan­dert Leben für Leben von Körper zu Körper. Die Bezie­hungen zwi­schen Ver­wandten sind ver­gäng­lich, die Bezie­hung zwi­schen Śrī Guru und seinem Schüler dagegen ist ewig. Die­je­nigen, die an welt­li­chen Bezie­hungen haften, können ihre mate­ri­elle bedingte Natur nicht über­winden und sich somit auch nicht mit der spi­ri­tu­ellen Kraft ver­binden; das heißt sie können die Liebe und Zunei­gung zwi­schen tran­szen­den­talen Per­sön­lich­keiten und den Schmerz, den diese emp­finden, wenn sie von­ein­ander getrennt sind, nicht nachvollziehen.

Ācārya Kesarī war niṣkiñcana-akiñcana, ohne mate­ri­elle Wün­sche und ohne Besitz. Dem­entspre­chend war auch der Āśrama schlicht und ein­fach. Es gab nur wenige Räume: den Altar­raum, den Vor­rats­raum, Ācārya Kes­arīs Zimmer und einen Raum für die älteren Schüler Śrīla Bhak­ti­sid­dhānta Prab­hupādas, die im Tempel wohnten. Die brah­macārīs Ācārya Kes­arīs, wie Sajjana-Sevaka Brah­macārī und Rād­hānātha Prabhu, wohnten bescheiden auf der Veranda. Ācārya Kesarī nahm Śrīla Guru­deva mit in sein Zimmer und bot ihm einen Sitz­platz, etwas mahā-prasāda und einen Platz zum Schlafen nahe seinem eigenen Bett an. Bevor sie sich zum Schlafen nie­der­legten, spra­chen sie eine Weile miteinander.

In Bihar auf­ge­wachsen, hatte Guru­deva viele sādhus getroffen und über spi­ri­tu­elle Themen befragt, jedoch hatte ihn keine ihrer Ant­worten völlig zufrie­den­ge­stellt. Er suchte nach einem reinen Gott­ge­weihten, aber er stellte fest, dass die sādhus noch an welt­li­chen Dingen haf­teten.  Als er nun Śrīla Bhak­ti­pra­j­ñāna Keśava Gos­vāmī Mahārāja traf, fühlte er sich wegen dessen kraft­voller Hin­gabe sogleich zu ihm hin­ge­zogen und ganz natür­lich schenkte er ihm bedin­gungslos sein Herz.

Früh am Morgen wachte Guru­deva auf und brachte Ācārya Kesarī seine Ehr­erbie­tungen dar. Dieser sagte zu ihm: „Du bist im hei­ligen Land Nav­ad­vīpa ange­kommen, dem Schau­platz von Śrī Cai­tanya Mahāprabhus Spielen. Für die Barm­her­zig­keit des Hei­ligen dhāmas musst du Gaṅ­gā­devī deinen Respekt erweisen und sie ver­ehren. Lass uns zusammen zu ihr gehen.“ Guru­deva beglei­tete Ācārya Kesarī zum Ganges. Auf dem Weg ver­herr­lichte Ācārya Kesarī Gaṅ­gā­devī und erklärte, warum sie durch Navadvīpa-Dhāma fließt.

Gaṅ­gā­devīs hei­liges Wasser geht von den Lotosfüßen des Höch­sten Herrn Śrī Viṣṇu aus. Auf Bitten König Bha­gīrathas kam sie von den himm­li­schen Pla­neten auf die Erde herab. Dieser hatte zu ihr gebetet, dass sie seine Vor­väter befreien möge. Um ihren starken Strom auf­zu­halten und zu ver­hin­dern, dass ihr Wasser die Erd­ober­fläche durch­schlagen würde, kam sie durch die ver­filzten Haare Śrī Śivas in Gaṅ­gotrī, Uttara-Khand, her­unter. Noch heute strömt sie aus dieser Quelle. Sie floss durch ganz Indien und umspülte dabei auch die neun Inseln in Gauḍa-Maṇḍala, bekannt als Navadvīpa-Dhāma. Dort ange­langt, ver­spürte sie keinen Wunsch mehr, zum Ozean zu fliessen.

König Bha­gīratha betete zu ihr: „Bitte fließ zum Meer.”

Ich werde Nav­ad­vīpa nicht ver­lassen,“ erwi­derte sie. „Diese neun Inseln sind das Reich meiner lieben Freun­dinnen, die Bhakt­idevī ver­kör­pern: Śrī­matī Rād­hārāṇī und Ihrer acht sakhīs.“

Varuṇa­deva, der Gott des Ozeans, kam per­sön­lich und bat sie: „Ich werde nicht rein werden können, wenn du nicht in mich mün­dest. Ich brauche deine Barm­her­zig­keit. Wenn du nicht kommst, dann muss ich nach Nav­ad­vīpa kommen, um mich mit dir zu treffen.“

Als Gaṅ­gā­devī trotzdem Nav­ad­vīpa nicht ver­lassen wollte, schwoll der Ozean in der Tat an, über­flu­tete das Land und kam bis nach Nav­ad­vīpa. Brahmā, Viṣṇu, Śiva und andere wich­tigen Gott­heiten eilten herbei und baten Gaṅ­gā­devī, güti­ger­weise ihr hei­liges Wasser dem Ozean zu geben. Sie wusste, dass Cai­tanya Mahāprabhu mit Seinen Gefährten bald erscheinen und in Navadvīpa-Dhāma Seine Spiele aus­führen würde. Ihr inniger Wunsch war, dass Mahāprabhu in ihrem Wasser spielen würde, genauso wie Kṛṣṇa es getan hatte, als Er sich im Wasser ihrer Schwe­ster Yamunā ver­gnügt hatte.

Der Höchste Herr Śrī Viṣṇu sagte: „Du kannst hier­bleiben und nur ein Teil von dir in den Ozean fließen lassen. Das Wasser, das den Staub der Füße der Vra­ja­devīs und ihre Barm­her­zig­keit gesam­melt hat, wird die Sünden, die sich im Ozean ange­sam­melt haben, tilgen.“ Gaṅgā-devī stimmte dem Vor­schlag zu, ein Teil ihres Was­sers abzu­geben, und der Ozean kehrte zurück.

Ange­kommen am Ufer der Gaṅgā beim Manipura-Ghāṭa, an dem Mahāprabhu manchmal gebadet hatte, ver­ehrten Ācārya Kesarī und Guru­deva Gaṅ­gā­devī mit Räu­cher­stäb­chen, einer Gheelampe und Blumen. Danach badeten sie respekt­voll in ihrem geseg­neten Wasser.

Śrīla Keśava Gos­vāmī Mahārāja sagte: „Alle Wün­sche, welche die Hin­gabe behin­dern, werden aus dem Herzen der­je­nigen gewa­schen, die die Gaṅgā hier in Nav­ad­vīpa ver­ehren, in ihr baden und um ihre Seg­nung bitten. Nicht nur das, son­dern sie werden gewiss eine enge Bezie­hung zum dhāma entwickeln.“

< Zurück    Vor­wärts >