Nachdem sie über die Herrlichkeiten Samudragaḍas und des Königs Samudra Sena gehört hatten, begaben sich die Pilger weiter nach Cāṁpāhāṭi. Im Tempel von Gaura-Gadādhara beschrieb Ācārya Kesarī, wie dort im Satya-Yuga ein älterer brāhmaṇa Rādhā-Govinda mit Campaka-Blumen verehrt hatte. Er wurde mit einer Vision von Gaurāṅga Mahāprabhu gesegnet, dessen Gestalt ebenfalls golden wie Campaka-Blumen leuchtet. Später wurde dieser Ort bekannt, weil sich der berühmte spirituelle Dichter Śrīla Jayadeva Gosvāmī dort niedergelassen hatte.
Ācārya Kesarī erzählte über die bekannten Ereignisse aus dem Leben Śrīla Jayadeva Gosvāmīs. Śrīla Jayadeva Gosvāmī und Padmāvatīdevī verehrten Rādhā-Mādhava in Cāṁpāhāṭi. Jayadeva Gosvāmī verwirklichte an diesem Ort Kṛṣṇas Spiele und verfasste seine Gedichtsammlung über die göttliche Liebesbeziehung zwischen Rādhā und Kṛṣṇa, die Gīta-Govinda.
Jayadeva stammt aus einer aristokratischen Familie. Seine Verwandten waren als Gurus und Priester tätig. In seiner Jugend vertiefte sich Jayadeva ausschließlich in bhajana und mied jeglichen weltlichen Austausch. Einmal erwähnte sein Onkel gegenüber König Lakṣmaṇa Sena: „Mein Sohn wird dein Guru sein. Jayadeva ist nicht dafür geeignet. Er praktiziert nur seinen bhajana, aber besitzt kein Vedisches Wissen.“
Der König war überrascht, dies zu erfahren. „Warum studiert Jayadeva nicht, wie es sich gehört?“ fragte er. Er besuchte Jayadevas in dessen Zuhause, einer bescheidenen Hütte im Wald. Er sah, wie Jayadeva die Gīta-Govinda in Sanskrit schrieb, während seine Frau eine Opferung für Rādhā-Mādhava zubereitete. Das göttliche Paar schien direkt aus ihrer Hand zu essen, ganz wie es kleine Kinder tun. Jayadevas Haus war von einem Garten aus Campaka-Bäumen umgeben. Padmāvatīdevī pflückte die Blumen von diesen Campaka-Bäumen und flocht daraus Girlanden für Kṛṣṇa. Der König, der Jayadeva heimlich mit der Königin besucht hatte, war tief beeindruckt. Er verstand, dass das Göttliche Paar mitsamt den Vrajadevīs persönlich erschien, um seine Gedichte zu genießen, sobald Jayadeva den Ruhm Rādhā-Kṛṣṇas besang.
Lakṣmaṇa Sena verkündete bald darauf, dass er nun Jayadeva als Guru annehmen würde. Jayadevas neidische Familienangehörige versuchten, den König davon abzubringen: „Er ist nur ein Bābājī. Er ist nicht qualifiziert, Guru von irgendjemand zu sein.“
Lakṣmaṇa Sena fragte überrascht: „Wie können Sie so etwas sagen? Jayadeva ist direkt mit Bhagavān verbunden. Kṛṣṇa lebt mit Jayadeva und lauscht mit Begeisterung seinen Liedern. Und Sie wollen mir weismachen, Jayadeva sei dumm und ungeeignet, mein Guru zu werden?”
Lakṣmaṇa Sena gelobte, keinen anderen als Jayadeva als seinen Guru anzunehmen. Jayadevas Familienangehörige waren erbost, als sie die Entscheidung des Königs hörten. Ihre Herzen waren so neiderfüllt, dass sie Banditen beauftragten, Jayadeva zu töten. Die Banditen kamen zu Jayadevas Haus, kurz nachdem Padmāvatī zur Gaṅgā gegangen war, um ein Bad zu nehmen. Sie verstümmelten Jayadeva, indem sie ihm Arme und Beine abhackten, und warfen ihn in ein Erdloch. Als Padmāvatī vom Baden zurückkam, konnte sie Jayadeva nirgendwo im Haus finden, also begann sie ihn zu suchen. Während sie jedoch fort war, stahlen die Banditen auch die Rādhā-Mādhava-Bildgestalten.
Padmāvatī klagte, weil sie ihren Mann nicht finden könnte. Als sie nach Hause zurückkam, sah sie, dass die Bildgestalten auch nicht mehr da waren. Sie weinte in Verzweiflung: „Oh Rādhā-Mādhava, Ihr helft mir nicht, meinen Mann zu finden, und jetzt hab auch Ihr mich verlassen!“
Sie ging zur Gaṅgā, entschlossen, sich dort eine Buße aufzuerlegen, denn sie wusste nicht, was sie sonst tun konnte. Am gleichen Tag kam der König in der Hoffnung, Jayadevas als seinen Guru anzunehmen, zu dessen āśrama. Als er an der Hütte anlangte, sah er, dass Jayadeva, Rādhā-Mādhava und Padmāvatī verschwunden waren. „Etwas stimmt hier nicht“, dachte er bei sich. Als er die Gegend nach Spuren absuchte, hörte er ein schwaches Singen der Gīta-Govinda:
śrita-kamalākuca-maṇḍala! dhṛta-kuṇḍala! e
kalita-lalita-vanamālā! jaya jaya deva! hare
Oh Du, der Du Zuflucht bei der Brust der höchsten Glücksgöttin, Śrīmatī Rādhārāṇī suchst; der Du Dich mit fischförmigen Ohrringen und einer zauberhaften Girlande aus Waldblumen schmückst – Deva! Hare! Alle Ehre sei Dir!
Der König ging der Stimme nach und fand schließlich Jayadeva mit abgetrennten Armen und Beinen in dem Erdloch. Der König fiel mit Tränen in den Augen auf die Knie und rief seine Minister und Soldaten, um Jayadeva aus dem Loch herauszuholen.
Jayadevas schurkische Verwandte erzählten daraufhin, dass Padmāvatī die Banditen angestiftet hätte, ihn umzubringen. „Diese unkeusche Frau hat sich einen Plan ausgedacht, ihn zu töten!“ behaupteten sie. „Sie ist von schlechtem Charakter und unterhält Beziehungen zu mehreren Liebhabern. Als Jayadeva sie damit konfrontierte, entschloss sie sich, Banditen zu beauftragen und ihn zu töten. Bestraft sie für diese Sünde!“
Padmāvatī wurde gefunden und zu dem Ort gebracht, an dem ihr Ehemann verstümmelt lag. Sogleich fiel sie, überwältigt von Schock und Schmerz, bewusstlos zu Boden. Als sie wieder zu sich kam, wurde sie des Mordversuchs beschuldigt. Sie trug Jayadevas Körper mit Wehklagen zur Gaṅgā und sprach: „Lass Gaṅgādevī Zeugin sein, ob ich keusch und ehrbar bin. Sollte ich meinem Gemahl jemals untreu gewesen sein, so soll ich augenblicklich tot zum Boden fallen. Und sollten die Beschuldigungen falsch sein, so möge er wieder geheilt werden.“
So schwor sie, stand in der Gaṅgā und hielt Jayadevas verstümmelten Körper in ihren Armen. Durch das Berühren des Gaṅgā-Wassers und dank ihrer Reinheit wuchsen Jayadevas Gliedmaßen wieder mit seinem Körper zusammen. Die Kunde von diesem Vorfall verbreitete sich rasch und Padmāvatī wurde für ihre Keuschheit berühmt. Der König nahm Jayadeva als sein Guru an und ließ fortan Jayadeva und Padmāvatī durch seine persönliche Leibgarde beschützen.
Bald wurden die Banditen gefasst. Der König fragte Jayadeva Gosvāmī: „Gurudeva, wie soll ich diese Männer bestrafen?“
„Gib ihnen Gold und mehrere Dörfer als Geschenk.“
Der König tat dies und die Banditen jubelten. Sie gaben die Rādhā-Mādhava-Bildgestalten zurück und wurden freigelassen. Als sie wieder auf dem freien Fuß waren, folgte ihnen der General Lakṣmaṇa Senas und befragte sie im Vertrauen: „Warum hat euch Jayadeva Reichtum und Dörfer geschenkt?“
„Er war früher selbst der Anführer einer Räuberbande“, antworteten sie. „Weil uns der König festnahm, fürchtete er, dass wir die Wahrheit über ihn sprechen würden und er Schwierigkeiten bekäme. Damit wir schweigen, hat er uns mit dieser Belohnung bestochen.“
Der General teilte dies dem König mit, aber der König war kein Narr. Zornig sprach er: „Verruchte Menschen ändern sich nie, selbst wenn man sie belohnt oder ihnen die Möglichkeit gibt, sich zu bessern.“ Der König wendete sich angewidert ab und bedeutete dem General, sie hinzurichten.
Jayadeva Gosvāmī und Padmāvatī lebten weiter in Cāṁpāhāṭi. Einmal, als Jayadeva Verse für die Gīta-Govinda schrieb, sah er in seiner Meditation etwas Wunderbares. Śrīmatī Rādhikā war eifersüchtig und schmollte mit Kṛṣṇa. Sie wollte Kṛṣṇa nicht sehen und schon gar nicht mit ihm sprechen. Kṛṣṇa versuchte auf vielerlei Art und Weise, Ihren Zorn zu besänftigen, aber all Seine Versuche waren erfolglos. Schließlich fiel er ihr zu Füßen und bat um Verzeihung.
„Wie kann ich schreiben, dass Kṛṣṇa Śrīmatī Rādhikās zu Füßen fällt?“ dachte Jayadeva. „Alle Lebewesen sind Diener Kṛṣṇas und sind Seine ewigen Teile. Śrīmatī Rādhikā ist Seine Energie und die beste Seiner Geweihten. Wie kann ich schreiben, dass sich Kṛṣṇa vor Ihr verneigt?“
Verwirrt legte Jayadeva seine Feder nieder und sagte zu Padmāvatī: „Ich gehe zur Gaṅgā. Bitte koche und opfere die Speisen zu Rādhā-Mādhava.“
Daraufhin nahm Śrī Kṛṣṇa selbst Jayadevas Form an und kam zu seinem Haus, als Padmāvatī gerade bhoga opferte. Kṛṣṇa (als Jayadeva) sagte zu Padmāvatī: „Ich bin schon zurück. Ich habe vergessen, einen Vers aufzuschreiben.“ Er nahm das Buch und beendete den Vers, den der echte Jayadeva aus Furcht nicht hatte schreiben wollen.
Kṛṣṇa schrieb:
smara-garala-khaṇḍanaṁ mama śirasi maṇḍanaṁ
dehī pada-pallavam-udāraṁ
(Gīta-Govinda 10.8)
Oh Meine Geliebte, das starke Gift des Liebesgottes verbrennt Mich. Bitte sei Mir gnädig und setze deine kühlenden Füße, die zart sind wie die Blütenblätter eines Lotus, auf meinen Kopf.
Padmāvatī teilte dann mit, dass das prasādam fertig sei. Kṛṣṇa, verkleidet als Jayadeva, antwortete: „Gut, Ich bin sehr hungrig.“
Jayadeva war noch nie begierig nach prasādam gewesen. Er war stets zufrieden in der Glückseligkeit der Liebe zu Rādhā-Mādhava. Heute allerdings bemerkte Padmāvatī, dass Jayadeva mit großer Begeisterung aß. Nach dem Essen ruhte er sich aus. Als Padmāvatī gerade begonnen hatte, selbst prasādam zu sich zu nehmen, kam der wahre Jayadeva zurück. Er wunderte sich: „Du hast noch nie vor mir gegessen. Ist heute etwas Außergewöhnliches geschehen?“
Padmāvatī war verdutzt: „Du warst erst vor einigen Minuten hier“, sagte sie, „du bist gekommen, hast deine Kleidung gewechselt, etwas in dein Buch geschrieben, prasādam zu dir genommen und dich zur Ruhe gelegt.“ Sie schaute ins Zimmer, aber sah dort niemanden.
„Bring mir mein Buch“, verlangte Jayadeva. Padmāvatī brachte es. Jayadeva schaute auf die Seiten, wurde still und sagte dann verwundert: „Der Vers, den Ich nicht gewagt habe, zu schreiben, ist hier niedergeschrieben. Kṛṣṇa selbst muss gekommen sein und ihn eigenhändig aufgeschrieben haben. Oh Padmāvatī, du bist so vom Glück begünstigt. Kṛṣṇa kam persönlich zu dir, um deinen Dienst entgegenzunehmen.“ Jayadeva fiel zu Boden und weinte in Ekstase.
Auf vielerlei Weise genossen Śrī Rādhā-Mādhava ihren süßen Austausch mit Jayadeva Gosvāmī und Padmāvatī. Jayadeva und Padmāvatī lebten in einer bescheidenen Strohhütte. Selbst heute noch können wir diesen heiligen Ort besuchen und die Verse der Gīta-Govinda singen. Jemand, die diese heilige Dichtkunst Jayadeva Gosvāmīs nicht liest oder hört oder kein Geschmack daran findet, kann kaum jemals hoffen, vraja-bhakti-rasa zu kosten.
Einige Zeit später betete Jayadeva Gosvāmī zu Rādhā-Mādhava und erhielt Ihre Erlaubnis, nach Jagannātha Purī zu ziehen. Dort vertiefte er sich darin, für Jagannātha zu singen. Padmāvatī sah, dass Jagannātha keine Hände und Beine besaß. Sie dachte: „Kann es sein, dass Jagannātha Seine Glieder meinem Mann geschenkt hat?“
Die Banditen hatten Jayadeva Gosvāmī Arme und Beine abgetrennt, aber Jagannātha gab Seine eigenen Arme und Beine Seinem lieben Geweihten. Jagannātha kam den ganzen Weg aus Kṣetra-Mandala, um Jayadevas Gesang der Gīta-Govinda zu hören, und als Jayadeva überfallen wurde, rettete ihn Jagannātha. Jagannātha ist bereit, Seinen bhaktas alles zu geben. In diesem līlā zeigte Jagannātha der Welt den Ruhm Seiner Geweihten; wie losgelöst von ihrem Körper sie sind. Diese Begebenheit zeigt auch, dass der Herr den materiellen Körper Seiner Geweihten fortnimmt und durch einen transzendentalen Körper ersetzt.
Jagannātha enthüllte Jayadeva: „Bald werde ich in Navadvīpa-Dhāma erscheinen und Meine Spiele als Caitanya Mahāprabhu offenbaren. Wirst du nach Navadvīpa zurückkehren und bei Mir sein?”
„Ja, ich werde kommen.“
Jagannātha erschien einige hundert Jahre später in Navadvīpa als Gaurāṅga Mahāprabhu und Jayadeva erschien in den Spielen des Herrn als Dvija Vāṇīnātha, der jüngere Bruder Gadādhara Paṇḍitas. Der wunderschöne Tempel Gaura-Gadādharas steht heute an demselben Platz, an dem Dvija Vāṇīnātha lebte und seinen bhajana ausführte.