Wenn Gottgeweihte "krank" werden
Nach seiner Rückkehr aus Tiwaripur begleitete Śrīla Gurudeva Ācārya Kesarī durch Bengalen, um den jährlichen Navadvīpa-Dhāma-Parikramā vorzubereiten. Während seiner Abwesenheit übertrug Ācāryadeva die Führung der Devānanda-Gauḍīya-Maṭha Narahari Sevā-Vigraha Prabhu. Narahari Prabhu lebte ein Leben der Entsagung. Selbst im kältesten Winter trug er nur einfache Baumwollkleidung und einen dünnen Schal. Während Gurudeva Reis für den Parikramā sammelte, erkrankte Narahari Prabhu an Windpocken. Die Gottgeweihten in der Maṭha wollten ihn pflegen, aber aus Demut lehnte er jede Hilfe ab. Langsam verschlimmerte sich sein Zustand. Narahari Prabhu schloss sich bescheiden in sein Zimmer ein, um nicht andere anzustecken und um unablässig chanten und innerlich Rādhā-Kṛṣṇa dienen zu können. Am Morgen des 30. Januar 1948 verließ Narahari Prabhu diese Welt und ging in die Spiele Rādhā-Kṛṣṇas ein.
Die Gottgeweihten sandten ein Telegramm mit der Nachricht über Narahari Prabhus Verscheiden an Ācāryadeva. Erschüttert eilte Ācārya Kesarī mit Gurudeva nach Navadvīpa. Als er eintraf, eilte er in das Zimmer, in dem Narahari Prabhu respektvoll aufgebahrt war und umarmte seinen Körper. Er weinte: „Prabhu! Du bist nicht nur mein älterer Bruder, du bedeutest mir alles. Ohne dich bin ich ein Waise.“
Ācāryadeva führte die letzten Rituale für seinen geliebten Gottbruder aus und organisierte eine Festlichkeit zum Gedenken an sein Leben im hingebungsvollen Dienst. An dem Tag des Festes verherrlichte Ācārya Kesarī wortreich Narahari Prabhu. Einige Anwesende jedoch äußerten etwas Zweifel: „Wenn er so ein großer Vaiṣṇava war, warum musste er in seinen letzten Tagen derart leiden? Er nahm Zuflucht bei Śrīla Prabhupāda, aber verließ die Welt unter solchen Umständen. Er muss ein schweres Vergehen begangen haben.“
In den nächsten Tagen erklärte Ācārya Kesarī in seinen Vorträgen, dass es für gewöhnliche Leute nicht möglich ist, das Wesen und die Tätigkeiten der Vaiṣṇavas zu verstehen. Vaiṣṇavas sind unaufhörlich im Dienst Gottes tätig. Wenn ihnen aber Leute ihre Zeit stehlen und sie davon ablenken, beten sie manchmal um Krankheit, um alleingelassen zu werden. Viele denken dann irrtümlich, dass der Vaiṣṇava ein Sünder ist.
Vaiṣṇavas hängen nicht an ihrem physischen Körper. Über einen erhabenen Gottgeweihten, der scheinbar krank ist, erklären die Schriften (Caitanya-Bhāgavata, Madhya 9.240–241):
„Sobald man einen weit fortgeschrittenen Vaiṣṇava scheinbar materiell leiden sieht, sollte man wissen, dass er in Wirklichkeit die höchste Ekstase erfährt. Jemand, der auf weltliches Wissen, Bildung, hohe Geburt, Reichtum oder Schönheit stolz und deshalb durch Sinnenbefriedigung verwirrt ist, kann die Taten oder die Stellung eines Vaiṣṇavas nicht verstehen. Der Vaiṣṇava nämlich sieht nie die Geburt in einem bestimmten Land, Bildung oder Vermögen als wichtige Eignung an; er verteilt die Barmherzigkeit des Herrn an jeden, ungeachtet seines sozialen Standes oder kulturellen Hintergrundes.“
Gewöhnliche Menschen können nicht zwischen einer gewöhnlichen Person und einem ewigen Gefährten des Herrn unterscheiden. Die scheinbare Krankheit der befreiten Seelen ist lediglich eine Prüfung Kṛṣṇas, wer Liebe für Seine Geweihten besitzt. Kṛṣṇa denkt: „Liebst du Meine Geweihten egoistisch, d.h. nur, wenn sie dir dienen und deinem Glück zuträglich sind, oder liebst du sie bedingungslos? Bist du bereit, ihnen in jeder Hinsicht und allen Umständen zu dienen, auch wenn sie scheinbar krank sind?“
Selbst als der Körper Sanātana Gosvāmīs, Mahāprabhus geliebten Gefährten, von Eiterbeulen übersät war, umarmte ihn Mahāprabhu und kümmerte sich um ihn. Zu der Zeit baten andere Gottgeweihte: „Mahāprabhu, er ist krank, bitte berühre ihn nicht.“
Mahāprabhu antwortete: „In jedem Zustand sind Meine Geweihten Mir lieb.“
Ācārya Kesarī erklärte, dass Śrīla Prabhupāda Narahari Prabhu den Namen Sevā-Vigraha verliehen hatte, weil er die lebendige Verkörperung des Dienstes war und seva-vṛtti, die Neigung zu dienen, schenkte. Er konnte die Eignung für den transzendentalen Dienst zu Māyāpura, dem Dhāma, den Vaiṣṇavas, Prabhupāda und der Guru-varga verleihen. Deswegen ist sein Name Sevā-Vigraha Prabhu. Indem man sich an ihn erinnert und seinem Beispiel folgt, wird man ewigen spirituellen Dienst erreichen. Obwohl er eine höhere Stellung als fast alle anderen Gottgeweihten einnahm, diente er jedem, als wären sie seine Höhergestellten. Wenn die Älteren den Jüngeren nicht dienen, wie werden dann die Jüngeren lernen, zu dienen? Dienst stellt Beziehung her. Bücher zu lesen oder Mantras zu chanten, gehört zur Theorie, aber Dienst gibt praktische Verwirklichung und erweckt reine Liebe im Herzen.
Ācāryadeva führte ein jährliches Fest zum Gedenken an Śrī Narahari Sevā-Vigraha Prabhu ein. Und als er die Devānanda Gauḍīya Maṭha errichtete, benannte er das Haupttor zu Ehren Narahari Prabhus „Narahari Toraṇa“.
Nach Narahari Prabhus Verscheiden wurde bei Anaṅga-Mohana Tuberkulose festgestellt. Ācārya Kesarī erhielt die Nachricht, dass er nicht geheilt werden konnte. Er brachte Anaṅga-Mohana nach Madras in eines der besten Krankenhäuser für Tuberkulosekranke in Indien und übertrug Śrīla Gurudeva die Verantwortung für seine Pflege. Einige beanstandeten, dass Ācārya Kesarī so viel von den Tempelspenden für nur einen brahmacārī ausgab. Doch er erwiderte: „Brahmacārīs sind Teil des Tempels. Einem brahmacārī zu dienen und dem Tempel zu dienen ist ein und dasselbe.“
Anaṅga-Mohanas Erkrankung war hoch ansteckend und Śrīla Gurudeva riskierte sein Leben, als er ihn selbstlos pflegte. Anaṅga-Mohana erbrach ständig Blut und konnte nicht essen. Er magerte mehr und mehr ab und war die meiste Zeit ohne Bewusstsein. In dieser Zeit wurde auch Gurudeva krank, aber seine Entschlossenheit, zu dienen, nahm nicht ab. Er blieb bei Anaṅga-Mohana, kochte und fütterte ihn, säuberte ihn und las ihm aus dem Bhāgavatam und Caitanya-Caritāmṛta vor. Ācārya Kesarī blieb ebenfalls in Madras, bis dringende Pflichten ihn woanders hin riefen.
Als Ācāryadeva abreiste, schlief Anaṅga-Mohana gerade. Als er aufwachte und Ācārya Kesarī nicht sehen konnte, rief er: „Wo ist Bābā? Bring mich zu Bābā. Wo ist er? Wer hat mich hierher gebracht? Warum bin ich von ihm getrennt worden?“ Er weinte und rief laut.
Śrīla Gurudeva versuchte ihn zu beruhigen. “Wenn es dir etwas besser geht, bringe ich dich zu ihm.“
„Nein! Ich muss jetzt zu ihm!“
Śrīla Gurudeva nahm ein Bild von Ācārya Kesarī und gab es Anaṅga-Mohana: „Er ist hier.“
Anaṅga-Mohana hielt es fest an seine Brust und rief laut: „Wo ist Bābā? Ich kann nicht ohne ihn leben. Rādhā und Kṛṣṇa rufen mich. Ich gehe nach Vṛndāvana.“
Śrīla Gurudeva ergriff Anaṅga-Mohanas Füße und sagte: „Wenn du gehst, wie kann ich dich halten? Bitte bete auch für mich, ich möchte auch nach Vṛndāvana.“
„Ja, Bābā ist dort in Vṛndāvana. Ich gehe zu ihm.“
Gurudeva sah Symptome spiritueller Ektase am Körper Anaṅga-Mohanas. Obwohl er sich im letzten Stadium seiner Krankheit befand, zeigte er keine Schmerzen. Er chantete unablässig die Namen Gaura-Nitāis und Rādhā-Kṛṣṇas.
Als er seinen Körper verließ, betet Gurudeva zu ihm: „Oh Prabhu, bitte gib mir einen Tropfen deiner ungeteilten Hingabe zu Śrī Guru-Pādapadma. Wenn du nach Vṛndāvana kommst, bitte bete für mich, dass ich mich deinem Dienst zu Rādhā-Kṛṣṇa unter der Führung Guru Mahārājas anschließen darf.“
Anaṅga-Mohana verließ diese Welt mit dem Namen Rādhā-Kṛṣṇas auf den Lippen.
Śrīla Gurudeva sandte einen Brief an Ācārya Kesarī, in dem er schrieb: „Du hast deinen lieben Gefährten in meine Hände gegeben. Ich konnte ihn nicht beschützen. Im Schmerz der Trennung von dir verließ er seinen Körper, während er die Namen Rādhā-Kṛṣṇa chantete. Die Vrajadevīs wollten nicht einmal einen Augenblick von Kṛṣṇa getrennt sein. Die Gopīs, denen es nicht erlaubt war, am Rāsa-Tanz teilzunehmen, gaben ihre physischen Körper auf und gingen in ihrer ewigen spirituellen Form zu Kṛṣṇa. In gleicher Weise konnte ich deinen geliebten Diener nicht im Krankenhaus halten. Er ging, um in der ewigen Welt bei dir zu sein.“
Ācārya Kesarī schrieb zurück: „Ja, aber sei unbesorgt. Ich bin bei dir. Du bist bei mir und er, über den du schreibst, ist auch bei mir. Die Beziehung zwischen Guru und Schüler ist unvergänglich. Er ist mir nicht fern, er ist hier.“
Die ewigen Gefährten Bhagavāns verbindet eine enge Beziehung miteinander, die immer transzendental bestehen bleibt. Caitanya Mahāprabhu verstieß scheinbar seinen Schüler Choṭā Haridāsa, doch als Mahāprabhu einmal am Ufer des Ozeans saß, sagte Er zu Svarūpa Dāmodara: „Ich höre Haridāsa singen. Svarūpa Dāmodara, hörst du ihn auch?“
„Ja, ich höre ihn. Das Haridāsas Melodie.“
„Wo ist Haridāsa?“
„Prabhu, Du hast ihn vor einem Jahr fortgeschickt. Er ging nach Prayāga und gab dort sein Leben auf. Einige sagen, er sei ein brahma-rākṣasa geworden.”
Verärgert rief Mahāprabhu: „Brahma-rākṣasa? Unmöglich! Er lebte mit Vaiṣṇavas in Jagannātha Purī und nahm Jagannāthas mahā-prasāda zu sich. Er gab zwar seinen Körper auf, aber in seinem spirituellen Körper ist er bei Mir.“
Ācārya Kesarī schrieb Śrīla Gurudeva: „Anaṅga-Mohana hat uns nicht verlassen. Er führt seinen Dienst weiter aus. Komm hierher und es wird dir möglich sein, alles von ihm zu lernen.“
Der sevaka (Diener) besitzt Liebe und Gurudeva nimmt diese Liebe an. Wenn das Herz des Vrajavāsīs schmilzt, dann geht seine reine Existenz und reine Liebe auf das Herz des Praktizierenden über dieser erlangt leicht ewigen Dienst.
Als Śrīla Gurudeva in die Devānanda Gauḍīya Maṭha zurückkehrte, verspürte er, wie eine immense Kraft in ihn einging. Er blieb an Ācāryadevas Seite und führte alle nur möglichen Dienste aus, einschließlich kochen, säubern, Wäsche waschen und dem Niederschreiben von Ācārya Kesarīs Essays zum Veröffentlichen. Einmal hatte Śrīla Gurudeva nachts einen Traum, in dem Anaṅga-Mohana bei Ācārya Kesarī war und all die Tätigkeiten ausführte, die er vor seinem Verscheiden getan hatte. Gurudeva erzählte Ācārya Kesarī am nächsten Morgen davon: „Guru Mahārāja, ich habe Anaṅga-Mohana gesehen, wie er dir auf vielerlei Weise dient.“
„Ja, ich habe ihn nie verlassen und er hat mich nicht verlassen“, sagte Ācārya Kesarī. „Er ist jetzt auch bei dir. Er hilft dir, wenn du kochst und mir dienst. Wie könntest du sonst alles allein tun? Er tut alles mit dir zusammen.“
Zu Ehren Anaṅga-Mohanas errichtete Ācāryadeva einen Tempel in Siddhāvāṭi, einem Dorf an der Grenze zwischen Bengalen und Bihar. Dort wird jährlich ein Fest für seinen geliebten sevaka ausgerichtet.
Im darauffolgenden Jahr, während der Cāturmāsya-Monate, erkrankte auch Sajjana-Sevaka an Tuberkulose. Ācārya Kesarī brachte ihn in das Krankenhaus nach Madras und der Arzt verschrieb ihm eine Medizin und eine Diät, die Tomaten enthielt. Die brahmacārīs im Āśrama lebten strikt und entsagt und aßen einfach. Während des Cāturmāsya aßen sie nur einmal am Tag und verzichteten auf bestimmte Speisen. Sajjana-Sevaka wollte keine Tomaten zu sich nehmen, weil dies das Cāturmāsya-Gelübde verletzen würde. Ācāryadeva aber bestand darauf, dass er sie essen solle, um sein Leben des Dienstes aufrechtzuerhalten. Sajjana-Sevaka aß also Tomaten. Ācārya Kesarī und Śrīla Gurudeva dagegen folgten Cāturmāsya strikt nach dem höchsten Standard und fasteten davon. Der Arzt teilte Ācārya Kesarī mit, dass Sajjana wieder gesunden konnte, sofern er seine Medizin sorgfältig zu sich nahm und sich in einer gesunden Umgebung aufhielt.
Śrīla Gurudeva begleitete Ācārya Kesarī, Sajjana-Sevaka und Adhokṣaja Bābājī zu dessen āśrama in dem abgelegenen Dorf Siddhāvāṭī, wo sie für einen Monat blieben. Auf dem Weg dorthin kaufte Adhokṣaja Bābājī Öl und Getreide für den ganzen Monat ein. Śrīla Gurudeva diente dort, indem er kochte, Ācārya Kesarīs Diktate niederschrieb und Sajjana-Sevaka pflegte. Weil Adhokṣaja Bābājī Mahārāja schon älter war, ging Śrīla Gurudeva allein zum Markt einkaufen, kochte und opferte das Essen, teilte prasāda aus und räumte auf.
Beim Kochen frittierte Gurudeva das Gemüse, bis es weich wurde, wusch es dann in heißem Wasser, um das Öl zu entfernen und briet es danach entweder mit Gewürzen an oder benützte er es in der Suppe. Ācārya Kesarī lobte ihn für das gesunde Prasāda, welches bekömmlich und zugleich schmackhaft war. Nach einer Woche teilte Adhokṣaja Bābājī Ācārya Kesarī mit, dass ihr Vorrat an Öl zur Neige ging. Ācārya Kesarī fragte: „Wie ist das möglich? Gaura Nārāyaṇa kocht doch einfach, mit wenig Öl.“
Adhokṣaja Bābājī lächelte und sagte: „sastā bhī khaeṅge, aur baḍiyā bhī khaeṅge! – Wir werden billig essen, aber es wird großartig schmecken!“
Eines Tages, als Gurudeva kochte, beobachteten Adhokṣaja Bābājī und Ācārya Kesarī ihn in der Küche, ohne dass er es merkte. Ācārya Kesarī lachte, als er Gurudevas schlaue Art des Zubereitens des Gemüses sah – leicht, aber schmackhaft.
In jenen Tagen gab es in Indien keine Heilmittel gegen Tuberkulose, die meisten Erkrankten starben daran. Doch Ācārya Kesarī wünschte sich, dass befähigte Leute seine Gesellschaft nach seinem Verscheiden weiterführen würden. So dachte er: „Sajjana-Sevaka ist hochqualifiziert, ich lasse ihn jetzt noch nicht gehen.“ Er gab seine spirituelle Kraft in Sajjana-Sevaka und dieser wurde wieder gesund und setzte seinen Dienst fort. Ein Gottgeweihter wird in seinem Leben vielen Prüfungen ausgesetzt sein, aber durch sein Vertrauen in Gott und durch seine Entschlossenheit, den bhakti-Pfad ohne Abweichung weiter zu folgen, wird er gewiss alle Hürden meistern.