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ahe dem heiligen Ganges, im Distrikt Buxar des indischen Bundestaates Bihar, liegt das brāhmaṇa-Dorf Tiwaripur. Dort, in der Vaiṣṇava-brāhmaṇa-Familie Baleśvaranātha Tiwārīs und Śrīmatī Lakṣmīdevīs, erschien die befreite Seele Śrīla Bhaktivedānta Nārāyaṇa Gosvāmī Mahārāja, bekannt als Śrīla Gurudeva und Bhakta-Bāndhava (Freund der Gottgeweihten) in dieser Welt.
Die Tiwaris waren Nachfahren der Śāṇḍilya-Brāhmaṇa-Dynastie und in der Schülernachfolge Śrī Rāmānujas eingeweiht. Sie praktizierten gläubig Bhakti-Yoga und luden als religiöse Familie regelmäßig reisende sādhus zu sich ein. Besonders in den Monaten Januar und Februar besuchen viele sādhus Tiwaripur, um am Ufer der Gaṅgā den Herrn zu verehren und Entsagungen auf sich zu nehmen. Am frühen Morgen baden diese frommen Männer in der Gaṅgā und vertiefen sich in Meditation, kīrtana, hari-kathā und führen zu bestimmten Zeiten Feueropfer durch.
Da es Gottgeweihten immense Freude bereitet, über Gottes Herrlichkeit zu hören, versammelten sich jeden Abend sādhus, brāhmaṇas und andere Gläubige aus der Gegend im Haus von Paṇḍita Baleśvaranātha und Gurudevas Großvater Śrīman Dhyānacānda Tiwari, die beide anerkannte Gelehrte waren, um kīrtana zu singen und aus den Schriften zu hören. Wann immer prominente Vaiṣṇavas oder sādhus anwesend waren, bat Paṇḍita Tiwari sie, zu den Anwesenden zu sprechen.
An einem Neumond-Abend gegen Ende des Winters 1920, am Mauni-Amāvāsya, dem Heiligen Tag von Śivas Erwachen aus seiner Meditation, betrat ein geachteter Vaiṣṇava-sādhu das Haus der Tiwaris, in dem sich Hunderte Gäste eingefunden hatten, um hari-kathā zu hören. Śrīman Dhyānacānda lud den sādhu ein, zur Menge zu sprechen.
„Ich werde hari-kathā sprechen“, erklärte der sādhu, „aber nur, wenn die Zuhörer auch versuchen, meine Anweisungen umzusetzen.“
Begierig, seine Rede zu hören, willigten die Anwesenden ein. Der sādhu begann dann, die Geweihten des Herrn zu verherrlichen:
„An dem Ort, an dem man Śrī Rama verherrlicht, wird augenblicklich Hanumān erscheinen, um zuzuhören, und wo immer man Kṛṣṇa lobpreist, sind stets große Seelen wie Prahlāda, Bhīṣma und Janaka gegenwärtig. Wo immer Śrī Ramas Spiele vorgetragen werden, sitzt Hanumān in Verkleidung ganz hinten in der Zuhörerschaft und geht als Letzter. Eines Tages machte sich Tulasī Dāsa auf den Weg, um rāma-kathā zu hören und Hanumāns Audienz zu erlangen. Er wünschte sich, Śrī Rāmacandra zu sehen, und hatte erfahren, dass dies nur möglich war, wenn er zuvor die Zuflucht Hanumāns erlangte. Als das Publikum einer nach dem anderen aufstand, um zu gehen, erkannte er in der letzten Reihe Hanumān, verkleidet als alten Mann. Tulasī Dāsa ergriff die Füße Hanumāns, nahm seinen Fußstaub und bat ihn um seine Gunst. Durch Hanumāns Segnung konnte Tulasī Dāsa später Śrī Rāma sehen und Seine Barmherzigkeit erlangen.
Der sādhu fuhr fort: „In diesem Leben ist es nicht möglich, Gott unmittelbar zu treffen, doch der Herr ist so gütig, Seine geliebten Gefährten in diese Welt zu schicken. Man muss beten: ‚Oh Herr, wie kann ich eine Beziehung mit Deinen Gefährten eingehen? Wie können sie meine Freunde und Beschützer werden?‘ Die Beziehung zu den transzendentalen Gottgeweihten wird uns Gott nahebringen. Wie können wir verstehen, wer wirklich ein Gottgeweihter ist? Wenn wir aufrichtig beten, wird der Herr uns mit der spirituellen Sicht und dem Verständnis ausstatten, heilige Persönlichkeiten zu erkennen.“
Wie Śrīla Śukadeva Gosvāmī, der ohne müde zu werden das Bhāgavatam rezitiert hatte, sprach der sādhu den ganzen Abend und bis spät in die Nacht über den Ruhm der transzendentalen Geweihten des Herrn. Die Anwesenden hörten gespannt zu, so wie einst Parīkṣit Mahārāja und die Weisen. Der sādhu erklärte den Ursprung und die Bedeutung des Mauni-Amāvāsya-Tages:
„Vor langer Zeit, als sich Satī Devī in der Opferarena ihres Vaters Dakṣa verbrannt hatte, weil ihr Ehemann Śiva verhöhnt worden war, überlegte Śiva, dass nun niemand mehr fähig und begierig war, über die Herrlichkeit Śrī Haris zu hören. Satī Devī war begierig gewesen, hari-kathā zu hören, und deshalb hatte Śiva sie ins Herz geschlossen. Śiva versenkte sich daraufhin in samādhi, in tiefe Trance.
Śivas Aufgabe besteht darin, die Welt von ihrer Last zu befreien, indem er die schädlichen Wünsche und Sünden der von Unwissenheit bedeckten Lebewesen läutert. Dafür ist hari-kathā und hari-kīrtana zwingend notwendig. Doch jetzt war Śiva allein und vertiefte sich in Meditation. Ohne den lebenspendenden Nektar seines hari-kathās versank die Welt in Dunkelheit. Unheil breitete sich aus und religiöse Zeremonien wurden vernachlässigt. Keiner zeigte mehr Hingabe zum Herrn, ja niemand nahm auch nur den Namen Śrī Viṣṇus in den Mund. Irgendwann wurde Satī als Pārvatī in den Himalayas wiedergeboren. Die Halbgötter beteten zu Śiva, Pārvatī zur Frau zu nehmen und seine universalen Pflichten wiederaufzunehmen, doch dieser blieb in Trance versunken. Schließlich erschienen Śrī Viṣṇu und Brahmā persönlich, um Śivas Meditation zu brechen. Sie baten: ‚Bholānātha, hier ist jemand, der hari-kathā hören möchte. Nimm Pārvatī als Deine Gefährtin an und komm deiner Verantwortung für die Schöpfung nach.‘“
Der sādhu schloss: „Mauni-Amāvāsya ist der Tag, an dem Śiva auf Bitten Śrī Viṣṇus und Brahmās aus seiner Trance erwachte. Śiva brach sein Schweigen, um die Herrlichkeit Gottes kundzutun. Mit Tulasī-Blättern und Gaṅgā-Wasser versprach er, Pārvatī zu heiraten, und einen Monat später, am vierzehnten Tag des abnehmenden Mondes, nahm er sie zur Frau an. Dieser Tag wurde als Śiva-Rātrī berühmt, die Nacht Śrī Śivas.“
Nachdem der sādhu geendet hatte, lud Paṇḍita Tiwari ihn ein, noch in seinem Haus zu bleiben. Paṇḍita Tiwārī und Lakṣmīdevī hatten ein Anliegen. Sie scheuten sich davor, Kinder zu zeugen, denn ihr erstes Kind war kurz nach der Geburt gestorben, was sie sehr mitgenommen hatte. Außerdem wussten sie, dass ihr spirituelles Leben darunter leiden würde, wenn ein gewöhnliches Kind in ihr Leben träte. Paṇḍita Tiwari und Lakṣmīdevī fragten den sādhu demütig: „Was sollen wir tun? Unsere Verwandten drängen uns zu Kindern. Aber wir befürchten, uns im weltlichen Leben zu verlieren, wenn eine gewöhnliche Seele in unserem Haus geboren wird.“
Der sādhu riet ihnen: „Badet am kommenden Śiva-Rātrī vor Sonnenaufgang in der Gaṅgā und verehrt dann Śrī Śiva. Śiva ist der größte Geweihte Śrī Viṣṇus und hat ein vertrautes Verhältnis zum Herrn. Wenn er mit Eurer Verehrung zufrieden ist, wird er den Herrn bitten, dass ein reiner Gottgeweihter in eurem Haus geboren wird.“ Der sādhu fuhr fort: „Ihr solltet täglich zu Śrī Kṛṣṇa beten und die Heilige Gītā rezitieren, den Schatz Seiner barmherzigen Unterweisungen und Lehren. Śrī Kṛṣṇa ist gegenwärtig, wo die Gītā geehrt wird, und wo immer Kṛṣṇa gegenwärtig ist, dort sind auch seine Geweihten gegenwärtig, so wie ein König immer von Gefolge umgeben ist.“
Paṇḍita Tiwari und Lakṣmī Devī nahmen die Unterweisung des sādhus mit Vertrauen an und gelobten, den Gottgeweihten zu dienen und regelmäßig die Bhagavad-Gītā zu rezitieren. Sie beteten täglich zu Śrī Kṛṣṇa um die Gemeinschaft mit Seinen reinen Geweihten und sannen über einen Vers nach, der sie besonders inspiriert hatte:
man-manā bhava mad-bhakto
mad-yājī māṁ namaskuru
mām evaiṣyasi satyaṁ te
pratijāne priyo ‘si me
Bhagavad-Gītā 18.65Denke immer an Mich, werde Mein Geweihter, verehre Mich und bringe Mir deine Ehrerbietungen dar. Auf diese Weise wirst du gewiss zu Mir kommen. Ich verspreche dir dies, weil du Mein inniger Freund bist.“
Jeden Tag besuchten Śrīla Gurudevas Eltern mit einer saṅkīrtana-Prozession die Gaṅgā. Nach dem Baden kehrten sie nach Hause zurück, trugen tīlaka auf ihren Körper auf und verehrten den Herrn. Dann zu Beginn des Frühlings, am Śiva-Rātrī-Tag, dienten Paṇḍita Tiwari und Lakṣmī Devī den ganzen Tag über Bhagavān, blieben die Nacht wach und verehrten Śiva. Sie beteten zu Śiva, dass er sie mit einem großen Geweihten Kṛṣṇas als Sohn segnen möge. In der Śiva-Rātrī-Nacht wird traditionell nicht geschlafen, sondern viermal Śiva verehrt: von 18 ‒ 21 Uhr, 21 ‒ 24 Uhr, 0 – 3 Uhr und 3 – 6 Uhr. Erfreut durch solche Verehrung, erfüllt Śiva die Wünsche des Verehrers.
Paṇḍita Tiwari und Lakṣmīdevī setzten sich in den Śiva-Tempel und rezitierten die Bhagavad-Gītā und das Rāmāyaṇa. Dann führten sie ein Feueropfer durch und badeten den Śiva-Liṅga. Sie beteten zu Śiva: „Möge durch deine Barmherzigkeit ein großer Geweihter Bhagavān Śrī Kṛṣṇas in unserer Familie geboren werden.“ Sie dachten: „Es gibt viele Geweihte Śrī Rāmas in unserer Familie. Jetzt wäre es eine große Segnung, wenn ein Geweihter Kṛṣṇas erscheinen würde. Hätten wir einen Sohn mit reiner Liebe für Kṛṣṇa, könnten wir von ihm immerzu über Kṛṣṇas Herrlichkeit hören.“
Nachdem Paṇḍita Tiwari und Lakṣmīdevī ihre Gebete und Verehrung am frühen Morgen beendet hatten, schlummerten sie ein. Da hatten sie einen eigenartigen Traum: Tausende strahlender Gottgeweihter sangen die Heiligen Namen des Herrn und tanzten in Ekstase. Ihre Körpertönung glich leuchtendem Gold und sie streckten ihre langen Arme gen Himmel, während sie tanzten. Allmählich kam die Prozession näher. Paṇḍita Tiwārī und Lakṣmīdevī bestaunten die göttlichen Persönlichkeiten und dachten: „Gewöhnlich haben wir hier am Abend kīrtana. Wieso findet dieser kīrtana morgens statt?“ Je näher die Prozession kam, umso mehr steigerte sich das Tanzen und Singen. Eines dieser göttlichen Wesen kam auf sie zu, lächelte einnehmend und trat dann in ihr Herz ein. Paṇḍita Tiwārī und Lakṣmīdevīs erwachten plötzlich und fühlten überwältigende Freude und Zuneigung für diese göttliche Persönlichkeit, die ihnen gerade erschienen war. Von jenem Tag an konnten sie die Person aus ihrem Traum nicht mehr vergessen.
Zur gegebenen Zeit richtete Lakṣmīdevī einen Raum als Wochenstube ein und bereitete sich auf die Entbindung vor. Am 6. Februar 1921, kam der Guru der Tiwari-Familie, ein brāhmaṇa namens Paṇḍita Miśra, der in der Rāmānuja-Sampradāya eingeweiht war, aus seinem Dorf Majariyagaon zu Besuch. Paṇḍita Tiwari hieß seinen Guru willkommen, verneigte sich vor ihm, bot ihm einen Platz an und wusch seine Füße. Nachdem sie einige Worte gewechselt hatten, servierte er ihm prasādam und bereite ihm ein Zimmer zur Nacht. Früh am nächsten Morgen setzten Lakṣmīdevīs Wehen ein. Rasch eilte sie in das Geburtszimmer. Ohne große Schwierigkeiten und Schmerzen gebar sie einen bildhübschen Jungen. Es war einige Minuten nach 4 Uhr am Morgen des 7. Februars, am Maunī-Amāvasyā-Tag des Jahres 1921, genau am Schnittpunkt der glückverheißenden Vedischen Monate Puṣyā und Māgha.
Der Familienguru war schon wach und hatte sein Morgenbad in der Gaṅgā genommen. Bei seiner Rückkehr wurde ihm mitgeteilt, dass soeben ein Junge geboren war, und er kam sogleich, um das Baby zu segnen. Viele Sādhus hielten sich zu der Zeit im Haus der Tiwaris auf, die sich an diesem Tag, an dem Śiva gebeten worden war, aus seiner Meditation zu erwachen, in Schweigen übten. Aber als sie dieses leuchtende Neugeborene sahen, begannen sie spontan und mit lauter Stimme zu singen: „Śrīman Nārāyaṇa Nārāyaṇa Hari Hari, Śrīman Nārāyaṇa Nārāyaṇa Hari Hari!“. Der liebliche Klang der Heiligen Namen erfüllte die Luft und bereitete dem geliebten Geweihten Śrī Haris einen herzlichen Empfang.
Der Guru der Familie, Paṇḍita Mishra, besah sich das Neugeborene und stellte fest, dass es außergewöhnliche blaue Augen und eine goldene Körpertönung besaß, und eine hohe Stirn, die von Natur aus mit dem tīlaka-Zeichen geschmückt war, dem Zeichen der Geweihten Śrī Viṣṇus. Auf den Füßen des Jungen entdeckte er die glückverheißenden Zeichen eines Kruges, eines Lotos, einer Flagge und die urdhvā-rekhā, eine Linie, die auf eine erhabene Seele hinweist. Auf den Fingerspitzen erkannte er 10 cakras. Als er all diese Merkmale sah, sagte Paṇḍita Mishra zu Paṇḍita Tiwārī: „Ihr seid überaus vom Glück begünstigt. Dieses Kind stammt nicht aus eurem kleinen Dorf, er ist ein großer Gottgeweihter des Herrn. Ich werde sofort sein Horoskop erstellen.“
Paṇḍita Tiwari und Lakṣmīdevī verstanden, dass ihr Sohn dieselbe Persönlichkeit sein musste, die sie in ihrem Traum gesehen hatten. Sie freuten sich: „Nun ist ein Heiliger in unserem Haus erschienen!“ Auch die Gäste freuten sich für sie und bestätigten, dass sie nie zuvor einen solch erstaunliches Baby gesehen hatten.
Nachdem er das Horoskop erstellt hatte, besprach Paṇḍita Mishra mit den Tiwārīs, welchen Namen sie dem Baby geben sollten. Sie entschieden sich dafür, es Śrīman Nārāyaṇa zu nennen. Weil ihr Sohn am Maunī-Amāvasyā-Tag geboren war, fühlten die Tiwārīs, dass Śiva sie mit einem besonderen Kind gesegnet hatte. Seine Großmutter Dulāridevī sagte: „Er ist ruhig und weint nicht. Wir sollten ihm den Spitznamen Bholānātha geben.“ Bholānātha ist ein Name Śivas und bedeutet: „Der sanftmütige Herr“.
Paṇḍita Miśra erklärte dann Paṇḍitajī Lakṣmīdevī: „Euer Sohn hat ein glückverheißendes Horoskop. Es besagt, dass er ein Cakravartī Mahārāja werden wird.“ „Cakra“ bedeutet „Rad“ und „varta“ bezieht sich auf dessen Nabe. Ein Cakravartī ist daher jemand, um den sich alles dreht, und der herausragt, weil er alle Himmelsrichtungen erobert. Paṇḍita Miśra schloss mit den Worten: „Euer Sohn wird die Welt bereisen, um die Seelen aus den Fängen māyās zu befreien und sie auf den Pfad der Hingabe zu führen.“