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Ś
rīla Gurudeva wuchs in einer Großfamilie auf. Zu den zahlreichen Verwandten gehörten Familien von zwei Onkeln väterlicherseits, Nandalāla und Kamalākānta, die Familie der Cousine Śyāmalāla Tiwārī, seine Großeltern, Dhyānacandra Tiwārī und Dulāri-devī, Großonkel Gorakanātha und viele Cousins. Sie alle lebten friedlich zusammen auf einem großen Anwesen, dass aus einfachen Zimmern mit Lehmwänden und strohgedeckten Dächern bestand. Mit der Zeit hatten Paṇḍita Bāleśvaranātha und Lakṣmī-devī sechs weitere Kinder bekommen, zwei Jungen und vier Mädchen. Śrīla Gurudeva’s Brüder hießen Viśvanātha and Siddhanātha und seine vier Schwester Motirānī, Sarasvatī, Phulakeśarī und Anapi.
Śrīla Gurudevas Mutter Lakṣmīdevī, eine energische Matriarchin, kümmerte sich aufopferungsvoll um die Großfamilie. Neben ihrem anderen vielfachen religiösen Engagement war sie auch eine begeisterte kīrtana-Sängerin. Sie brachte Śrīla Gurudeva schon frühzeitig das Singen bei, und so wurde seine natürliche Begabung und Vorliebe für kīrtana gefördert. Śrīla Gurudevas Vater war einerseits ein Schriftgelehrter und andererseits ein kraftvoller Ringer und begnadeter Sportler. Seine Gelehrsamkeit hatte er von seinem Vater Dhyānacandra und seine Stärke von seinem Onkel Gorakanātha geerbt.
Die Tiwārīs besaßen nahezu vierzig Hektar Ackerland. Sie ernteten üppig Gemüse, Früchte, Reis, Gerste, Bohnen und Senfsamen. Die Zeit von Śrīla Gurudevas Vater war ausgefüllt mit Feldarbeit, dem Dreschen des Getreides und anderen Verpflichtungen, die der Hof mit sich brachte, und am Abend leitete er die spirituellen Programme in seinem Haus. Paṇḍita Tiwārī trank täglich sieben Liter Milch, um sich die Kraft und die Energie für sein arbeitsreiches Leben zu bewahren. Śrīla Gurudeva übernahm den Arbeitseifer seines Vaters, er half ihm auf dem Feld, pflegte die Saat und pflanzte Jackfruchtbäume, Jamunbäume und Bambus.
Gurudevas Großvater Gorakanātha galt in ganz Bihar als unschlagbarer Ringer. Er war so kräftig, dass er bei heftigen Stierkämpfen dazwischengehen und einen Stier zu Boden ringen konnte. Zwei Kilometer von Tiwārīpura entfernt lag das Dorf Kulhadiya, in dem viele Büffel gehalten wurden. Weil die Tiwārīs gute Beziehungen zu den Yādavas aus Kulhadiya pflegten, besuchte Gorakanātha gelegentlich das Dorf. In Kulhadiya gab es einen wilden, für seine ungewöhnliche Größe und Aggressivität gefürchten Büffel, und Gorakanātha hatte sich vorgenommen, diesen wilden Büffel zu zähmen. Mit einer Büffelkuh, die gedeckt werden sollte, im Schlepptau, machte er sich eines Tages auf den Weg nach Kulhadiya.
Als die Dorfbewohner von seiner Absicht erfuhren, warnten sie ihn: „Nein, Nein, Herr Tiwārījī, sie machen einen Fehler! Dieser Büffel ist eine wilde Bestie. Wenn er zornig wird, entkommt ihm niemand. Und sobald er eine Kuh bei sich hat, lässt er sie nicht wieder los!“
„Keine Sorge“, lachte Gorakanātha. „Bleibt ruhig und schaut zu.“
Er ließ das Büffelweibchen auf die offene Weide und kam einige Stunden später zurück, um es abzuholen. Als er kam, beschwörten ihn die Leute: „Sie verstehen nicht, Herr Tiwārījī! Wenn sie versuchen, sie zu trennen, wird er sie töten!“ Gorakanātha schenkte den besorgten Worten keine Beachtung und begab sich festen Schritts auf das Feld. Währenddessen sammelte sich eine Menschenmenge am Feldrand, um aus sicherer Entfernung zuzuschauen. Sobald der wilde Büffel ihn bemerkte, begann er zu schnauben und mit den Hufen zu scharren. Gorakanātha ging jedoch ohne Zögern weiter. Das Tier brüllte und ging mit gesenktem Haupt zum Angriff über. Als es ihn erreichte, schwang es den Kopf, um ihn aufzuspießen, aber Gorakanātha ergriff seine Hörner. Mit einem Brüllen und einem kräftigen Schieben drückte er den Kopf des Tieres langsam zu Boden und presste seine Schnauze in den Dreck. Wieder und wieder versuchte der Büffel, Gorakanātha aufzuspießen, aber er war machtlos gegenüber seiner überlegenden Stärke. Schließlich ließ Gorakanātha ihn los und schlug ihm mit einem Eisenstab, den er an seinem Gürtel trug, auf den Kopf. Zum ersten Mal in seinem Leben besiegt, drehte sich der Büffel um und trottete gesenkten Hauptes und ohne einen weiteren Blick auf seinen Gegner davon.
Zurück zu Hause berichtete Gorakanātha stolz von seiner Tat. Seinem Großneffen Śrīman Nārāyaṇa, dem er sehr zugetan war, riet er: „Versuche, so stark zu werden wie ich. Dann wird dich niemand auf der Welt herausfordern können.“
Śrīla Gurudeva antwortete höflich: „Löwen und Elefanten sind auch sehr stark. Sie herrschen über die anderen Tiere. Aber erfreut das Bhagāvan? Am stärksten ist derjenige, der losgelöst ist, seine Sinne beherrscht und seinen Körper und Geist in Bhagāvans Dienst stellt. Jemand, der große Körperkraft besitzt, wird meist arrogant und hängt an seinem Körper. Rāvaṇa war auch stark, aber Rāma tötete ihn. Wenn jemand jedoch stark in Hingabe zu Bhagāvan ist, wird sich die Welt ewig an ihn erinnern.“
Als Śrīla Gurudevas Familie diese Worte hörte, überkam sie eine Ahnung, dass er eines Tages ein sādhu werden und seine Familie verlassen würde. Gorakanātha jedoch empfand noch mehr Zuneigung zu seinen Großneffen und auch sein Interesse, Gott zu dienen, nahm zu. Jahre später kam er oft zu Śrīla Gurudeva und fragte um Rat, wie er spirituellen Fortschritt machen konnte.
Die Mehrzahl der Einwohner Tiwārīpuras konnte lesen und schreiben und war mit den Vedischen Schriften vertraut. Die Leute lebten einfach und rein. Sie mieden unreine Nahrungsmittel wie Fleisch, Fisch, Eier, Zwiebel, Knoblauch und Rauschmittel und führten traditionell hingebungsvolle Tätigkeiten aus, wie über Gottes Herrlichkeit zu hören und Seine Heiligen Namen zu chanten.
Eines Tages, irgendwann nach seinem achten Geburtstag, fragte Śrīla Gurudeva seinen Vater: „Jeden Morgen stehst du zeitig auf und dienst den Bildgestalten. Die Dorfbewohner kommen und bringen Geschenke und danach sprichst du hari-kathā. Bitte erkläre mir, warum du das tust. Warum kommen die Leute und bitten um deine Segnungen? Was ist das Ergebnis dieser Tätigkeiten?“
„Mein Kind“, antwortete Paṇḍitajī, „durch die Verehrung Bhagāvans erhalten die Menschen Seine Segnungen und werden in ihrem Tun erfolgreich. Die Bauern ernten reichlich Getreide, Früchte und Gemüse. Die Arbeit der Menschen wird gedeihen, ihre Familienangehörigen bleiben gesund und von Schwierigkeiten verschont.“
„Aber wie nützt das der Seele?“ fragte Śrīla Gurudeva.
„Hör, mein Sohn“, sagte Paṇḍitajī, „das Leben in dieser Welt ist hart. Die Menschen hoffen, durch die Verehrung von Gott gesund und glücklich zu bleiben. Sie befolgen dharma, um materiell wohlhabend zu werden, sich ihre Wünsche zu erfüllen oder aus dem Kreislauf von Geburt und Tod befreit zu werden.“
„Wenn die Leute Bhagāvan verehren, um sich ihre eigenen Wünsche zu erfüllen“, fragte Gurudeva, „versuchen sie dann nicht, Ihn zu ihrem Diener zu machen? Sie verehren Ihn, damit Er sie ernährt und ihre Familien beschützt, und stellen gleichzeitig ihre Hingabe zur Schau, um Ansehen zu erlangen. Für wessen Freude verehren sie eigentlich?“
„Das ist eine kritische Frage“, entgegnete Paṇḍitajī. „Wenn du älter bist, wirst du das verstehen. Zerbrich dir jetzt nicht den Kopf darüber.“
„Vater“, drängte Śrīla Gurudeva weiter, „ich höre dein hari-kathā dem aus Rāmāyaṇa, der Bhagavad-Gītā und dem Bhāgavatam. Du sprichst davon, dass wir alle gemäß unserem vergangenen karma geboren wurden. Du erklärst auch, dass die wahre Pflicht des Menschen darin besteht, Bhagāvan mit Hingabe zu dienen, denn nur durch solchen Dienst kann man Erfüllung finden. Sind dies Ratschläge für den Körper oder für die Seele? Wie können wir eine Beziehung zu Bhagāvan aufbauen und das trügerische materielle Leben hinter uns lassen?“
„Du kannst das unseren Familienguru fragen, wenn er kommt. Jetzt geh spielen.“
Der Familienguru, Paṇḍita Miśra, war in der Gegend hochgeachtet. Wenn er mit seiner wohlklingenden Stimmte weise Erläuterungen zum Śrīmad-Bhāgavatam gab, kamen viele, um ihm zuzuhören. Als er nach ein paar Tagen zu Besuch kam, erwies ihm Paṇḍita Bāleśvaranātha gebührende Ehre und erzählte ihm davon, dass sein Sohn Nārāyaṇa schon auf ihn gewartet habe: „Er ist sehr wissbegierig und argumentiert gerne. Seine Neugier hat kein Ende.“
„Lass uns sein Horoskop betrachten“, schlug Paṇḍita Miśra vor. Nachdem er es begutachtet hatte, kam er zu folgendem Schluss: „Dein Sohn ist ein ernsthafter Junge. Er besitzt tiefe Hingabe und kein großes Interesse am weltlichen Leben. Auch diejenigen, die Umgang mit ihm pflegen, werden ähnlich losgelöst und entsagt werden. Er wird Bhagāvan und Bhagavāns Geweihten dienen und zudem die materialistische Natur derer in seiner Nähe ändern. Ihr Hang zum materiellen Leben wird nachlassen und sie werden sich dem Dienst Gottes zuwenden.“
Diese Worte erfreuten die Familie Tiwārī, aber sie beunruhigten sie auch. Obwohl sie froh waren, dass Śrīman Nārāyaṇa ein großer Gottgeweihter war, wünschten sie sich nichtsdestotrotz, dass er ein pflichtbewusster Familienvater werden würde, der sich um Haus und Hof kümmerte. In der Hoffnung, seine zukünftige Loslösung von der Familie verhindern zu können, spendeten sie mehr als gewöhnlich für wohltätige Zwecke. Sie chanteten vedische Mantras, um Gott versöhnlich zu stimmen und beteten zu Ihm, dass er das Herz ihres Jungen wandeln möge. Als ihre Bemühungen jedoch keinen Erfolg zu zeitigen schienen, bereiteten sie eine vedische Friedenszeremonie vor, das śānti-yajña.
Zu diesem Feueropfer waren etliche hochrangige brāhmaṇas, Vaiṣṇavas und sādhus eingeladen. Unter den Gästen befand sich auch ein entsagter und gebildeter Vaiṣṇava-brāhmaṇa aus Vārāṇasī, der die heiligen Orte in und um Tiwārīpura besuchte. Śrīman Dhyānacandra and Paṇḍita Bāleśvaranātha wuschen ihren Gästen die Füße und sorgten für ihr Wohl. Auch Śrīla Gurudeva diente den sādhus respektvoll, indem er ihnen Essen servierte, ihre Kleidung wusch und ihre Füße massierte.
Als die Feuerzeremonie begann, rief Paṇḍitajī seinen Sohn: „Nārāyaṇa, setz dich und bring Ghee- und Getreidegaben im Opferfeuer dar.“
„Zuerst würde ich gerne den Brāhmaṇas und Vaiṣṇavas einige Fragen stellen“, entgegnete Śrīla Gurudeva. „Nachdem meine Fragen beantwortet wurden, werde ich mich zum yajña setzen.“
Er trat auf die Anwesenden zu und verneigte sich demütig. „Ich erweise den ehrwürdigen brāhmaṇas und sādhus meine Ehrerbietungen. Bitte segnen Sie mich.“
Die Gäste dachten: „Man sagte uns, dass dieser Junge etwas eigensinnig sei, aber er scheint uns eher ein angenehmes und bescheidenes Wesen zu besitzen.“
„Wenn Sie erlauben“, sagte Śrīla Gurudeva, „hätte ich eine kleine Bitte.“
„Ja, wir werden deinen Wunsch erfüllen“, antworteten die ehrwürdigen Gäste.
„Beantworten Sie mir gütigerweise meine Fragen: Worin besteht das letztliche Ziel des Lebens? Aus welchem Grund führt man so viele religiöse Tätigkeiten aus? Ich möchte gern die wirkliche Wahrheit erfahren und nicht durch weltliche Unterweisungen irregeführt werden.“
Der gelehrte Vaiṣṇava aus Vārāṇasī sagte: „Ich werde deine Fragen beantworten.“
Śrīla Gurudeva fragte: „Wird ein Mensch, der sein Leben lang seinen Familienangehörigen dient, Befreiung aus dem materiellen Dasein erlangen? Wird er das Feuer weltlicher Verlangen und der Illusion überkommen und die Natur Gottes und seiner Seele verwirklichen? Zu welchem Zweck befolgen die Menschen dharma und verehren Bhagavān?”
Es wurde still. Jeder wartete auf eine Antwort. Der Vaiṣṇava sprach: „Ich möchte dir die unverblümte Wahrheit sagen: Versuche nicht, eine Geschäftsbeziehung mit Bhagāvan einzugehen. Die meisten Menschen verehren Gott und bringen ihm Speisen, Stoffe, Geld und so weiter dar, weil sie eine Belohnung dafür erwarten. Wenn sie keine materiellen Ergebnisse bekommen, geben sie ihre Verehrung auf. Eine solche Geschäftsbeziehung zu Gott ist das Merkmal von karmīs, von Materialisten, die an den Ergebnissen ihrer Tätigkeiten haften. Für materiellen Wohlstand beten sie Halbgötter an oder vergöttern gewöhnliche Menschen, aber sie denken nicht an das Wohl ihrer Seele. Äußerlich verehren sie Nārāyaṇa und Seine spirituelle Kraft Śrī Lakṣmīdevī, die Glücksgöttin, aber im Grunde wollen sie Lakṣmīdevī nicht dienen. Vielmehr versuchen sie, Lakṣmīdevī von Nārāyaṇa zu stehlen, um mit Ihren Reichtümern ihre eigene Sinnesfreude zu vergrößern.“
Śrīla Gurudeva Gesicht hellte sich auf: „Ja, Sie sprechen die Wahrheit. Aber wie kann ich die ewige Natur meiner Seele in Beziehung zu Gott verwirklichen? Wie kann ich Dienst zu Ihm erlangen? Er gibt uns gütigerweise diesen menschlichen Körper, damit wir ihn dafür nutzen, uns aus der materiellen Bindung zu befreien. Wie kann ich mein Leben zum Erfolg führen und Gott verwirklichen?“
„Es freut mich, dass du so ernsthaft nach der Wahrheit suchst,“ erwiderte der Vaiṣṇava. „Beziehungen in dieser Welt sind vergänglich. Unser Zusammensein mit unserer Familie gleicht genaugenommen dem Zusammenleben von Flüchtlingen in einem zeitweiligen Asyl. Wir sind alle Flüchtlinge, die sich von Bhagāvan abgewandt haben. Das letztliche Ziel des Lebens besteht darin, unsere ewige liebevolle Beziehung zu Bhagāvan wiederzuerwecken. Dies wird möglich, wenn man ernsthaften sādhana (spirituelle Praxis) unter Führung eines reinen Gottgeweihten ausübt. Sobald der reine Gottgeweihte unsere ehrliche Bemühung sieht und uns barmherzig ist, wird unsere Anhaftung an die Welt verfliegen und Liebe zu Gott erwachen.“
„Ja, das ist die Wahrheit“, stimmte Śrīla Gurudeva zu.
Nachdem der Vaiṣṇava-sādhu Śrīla Gurudevas beherzte und intelligente Fragen beantwortet hatte, wandte er sich an Paṇḍita Bāleśvaranātha. „Ich habe über Wesen deines Sohnes nachgedacht. Er ist kein gewöhnlicher Junge, und auch seine Zukunft wird keine gewöhnliche sein. Er wird nicht zu Hause bleiben, vielmehr wird die gesamte Welt sein Zuhause sein. Er wird viele verirrte Seelen retten, indem er sie mit ihrer ewigen Natur vertraut macht und sie mit Gott verbindet.“
Als Paṇḍitajī dies hörte, war zugleich erfreut und betrübt. „Sollen wir das yajña trotzdem durchführen?“, fragte er.
„Ja, wir sollen Śrī Viṣṇu damit erfreuen.“ Der Vaiṣṇava nahm seinen Platz bei den Priestern wieder ein, die darauf warteten, mit der Zeremonie zu beginnen.
Śrīla Gurudeva fragte ihn: „Was ist der Zweck dieses Feueropfers?“
„Es soll Śrī Viṣṇu zufriedenstellen. Er ist der Genießer aller religiösen Tätigkeiten.“
Zusammen mit seinem Vater und Großvater nahm Śrīla Gurudeva daraufhin an dem yajña teil und gab Getreidekörner als Opfergabe in die Flammen, während die Priester Butterfett ins Heilige Feuer gossen. Nach Vollendung des Opfers verteilten Paṇḍitajī und Śrīman Dhyāncandra Geschenke an die Gäste und bewirteten sie mit mahā-prasāda.
Der Vaiṣṇava aus Vārāṇasī war von Śrīman Nārāyaṇas Charakter beeindruckt. Bevor er abreiste, suchte er einige wichtige Verse aus dem Rāmāyaṇa, der Gītā und dem Bhāgavatam heraus, die beschreiben, wie man die Beziehung zu Gott entwickelt, und gab sie ihm zum Lernen.
Sie saßen zusammen und sprachen über spirituelle Themen:
„Ist es für jemanden im Familienleben möglich, sie von dieser Welt zu lösen und eine Beziehung zu Gott aufzubauen?“, fragte Gurudeva.
„Es ist sehr selten. Menschen im Familienleben hängen an Sinnesfreude und in ihrer Gemeinschaft wird man dementsprechend beeinflusst. Verkehrt man dagegen mit Gottgeweihten, die selbst entsagt sind, kann man Selbstverwirklichung erlangen.
In der folgenden vedischen Geschichte wird dies schön veranschaulicht. Es gab einmal einen Jungen namens Nārada, der mit seiner Mutter in einer kleinen Siedlung im Wald lebte. Während der vier Monate der Regenzeit pflegten sich oft Weise dort aufzuhalten, um zu meditieren und sich ihrer Entsagung zu widmen. Nārada und seine Mutter dienten den sādhus, indem sie Holz für ihre yajñas sammelten, Blumen für ihre Verehrung pflückten und ihnen am Abend Essen servierten. Die Weisen führten Feueropfer durch, sangen hari-kīrtana, sprachen über spirituelle Themen und meditierten über den Herrn. Nārada war von einfachem Wesen und erhielt einmal die Barmherzigkeit der Weisen in Form ihrer Erlaubnis, die Reste ihres Essens zu sich nehmen zu dürfen. Am Ende der vier Monate machten sich die sādhus daran, abzureisen.
Nārada weinte: ‚In Ihrer erhabenen Nähe habe ich vergessen, wer ich bin und wo ich bin. Seit Sie hier sind, bin ich vollständig in Śrī Bhagāvans Dienst vertieft. Ich fürchte, dass meine Mutter mich in Ihrer Abwesenheit wieder mit weltlichen Tätigkeiten beschäftigen wird und ich diese kostbare Gelegenheit für hingebungsvollen Dienst verliere. Dann wird mein Wunsch, Gottes Heilige Namen zu chanten, allmählich wieder verschwinden. Bitte helfen Sie mir.‘
Auf Nāradas inständiges Bitten hin gaben ihm die sādhus ein Mantra zu chanten. Nach ihrer Abreise vermisste Nārada sie schmerzlich. Er vertiefte sich in das Chanten des Mantras, aber immer wieder rief ihn seine Mutter zum Essen, zum Schlafen oder zur Hausarbeit und unterbrach seine Konzentration. Als sie ihn so begierig nach spirituellem Leben sah, begann seine Mutter sich zu sorgen: ‚Bald wird er davonlaufen und mich verlassen.‘
Nārada hingegen betete zum Herrn: ‚Wann werde ich von dieser illusorischen Anhaftung frei?‘
Kurze Zeit später wurde seine Mutter von einer Schlange gebissen. Nārada sah ihren toten Körper und verstand, dass jeder dem Tod geweiht und nur die Seele ewig ist. Er verließ sein Haus ohne Trauer und ging auf eine Pilgerreise zu den heiligen Orten der Welt.
Er chantete das Mantra, das ihm die Weisen gegeben hatten, mit Aufmerksamkeit und betete unablässig. Eines Tages hatter er eine Vision: Gott erschien ihm am Himmel und sprach zu ihm: ‚Das stille Chanten Meines Mantras genügt nicht, um Mich zufriedenzustellen. Du musst Meine Namen laut auf der Welt lobpreisen. Verehre Mich ohne Unterlass und erleuchte andere: das wird Mir zeigen, dass du Mich liebst und Meine Gesellschaft wünschst.‘
Mit diesen Worten löste sich die Vision auf und Narada weinte vor Sehnsucht nach dem Herrn. Bhagavāns Anweisung folgend reist Nārada um die Welt, sang die Namen Gottes und unterwies jeden, den er traf, den Herrn zu verehren. Im Laufe der Zeit wurde er als großer Rṣi und reiner Gottgeweihter berühmt.
Einmal begegnete ihm ein König und er bat ihn inständig: ‚Bitte chanten Sie die Heiligen Namen!‘
Der König entgegnete: ‚Ich habe viele Verpflichtungen, ich habe keine Zeit, Gott zu verehren. Ich muss mich um die Bürger meines Landes kümmern. Falls Sie meine Aufgaben übernehmen, kann ich chanten. Haben Sie denn kein Pflichtbewusstsein? Sie empfehlen anderen, Gott zu verehren und ihre Verantwortung aufgeben, aber wenn jeder ihren Ratschlägen folgen würde, wer sorgt dann für die Bürger?‘
Nārada Ṛṣi antwortete: ‚Ihre weltlichen Verpflichtungen werden Sie nur noch mehr an diese Welt binden und dazu führen, dass Sie das wahre Ziel des Lebens vergessen. Wenn Sie dagegen Ihre Verantwortung wahrnehmen, Bhagavān und Seinen Geweihten zu dienen, wird Er Ihnen Seine Gunst schenken. Durch Seine Gnade können Sie und auch jeder andere, der mit Ihnen in Berührung kommt, Glückseligkeit kosten. Eure Majestät, die meisten Menschen identifizieren sich mit zeitweiligen Pflichten, die nichts mit der Seele zu tun haben, aber eigentlich ist diese Welt ein Ort, der uns lehren soll, Gott zu lieben und Ihm zu dienen, denn das ist die ureigene Natur und wahre Pflicht eines jeden.‘
Unter Nārada Ṛṣis Einfluss wandelte sich die Gesinnung des Königs und er begann sādhana und bhajana zu praktizieren. Sowohl der König als auch seine Bürger wurden im Herzen zufrieden, als sie begannen, den Herrn aufrichtig und mit Vertrauen zu verehren. Dies ist das Ergebnis von Gemeinschaft mit Heiligen. Einzig durch selbstlosen Dienst zu Bhagavān kann man glücklich werden und Erfüllung im Leben finden.“
sa vai puṁsāṁ paro dharmo
yato bhaktir adhokṣaje
ahaituky apratihatā
yayātmā suprasīdati
Śrīmad-Bhāgavatam 1.2.6Die höchste Pflicht des Menschen besteht darin, dem transzendentalen Herrn mit Liebe und Hingabe zu dienen. Dieser Dienst sollte ohne Pause und ohne selbstische Wünschen dargebracht werden. Solche bhakti zu praktizieren, schenkt Zufriedenheit und direkte Wahrnehmung von Kṛṣṇas wunderschöner Form.
Śrīla Gurudeva dachte über diese Unterweisung nach und fragte dann: „Wie kann ich Cāturmāsya befolgen?“
Der Vaiṣṇava Sādhu war erfreut über die Ernsthaftigkeit des jungen Śrīman Nārāyaṇa und erklärte ihm die Regeln des Cāturmāsya-Gelübdes: „Das Wichtigste ist, sich immer an Gott zu erinnern und Ihn nie zu vergessen. Alle anderen Anweisungen der Schriften sind diesem Grundsatz untergeordnet und nur dazu bestimmt, uns dabei zu helfen, immer an Gott zu denken.“
smartavyaḥ satataṁ viṣṇur
vismartavyo na jātucit
sarve vidhi-niṣedhāḥ syur
etayor eva kiṅkarāḥ
Padma-PurāṇaMan soll sich immer an Śrī Viṣṇu erinnern und Ihn nie vergessen. Alle anderen in den Schriften aufgeführten Regeln und Verbote sind Diener dieser beiden Prinzipien.
Der Vaiṣṇava-sādhu fuhr fort: „Der Geist und die Sinne sind während der Regenzeit ungestümer als sonst. Gewisse Lebensmitteln erregen sie zusätzlich und erschweren es, sich an Gott zu erinnern. Viele Lebewesen in subtiler Form fallen mit Regentropfen auf die Erde herab, um im karmischen Kreislauf einen neuen Körper zu erhalten. Bestimmte Nahrungsmittel, die in dieser Zeit wachsen, beherbergen dann diese leidenschaftlichen Lebewesen, die in unseren Körper eintreten und den Geist erregen. Vaiṣṇavas meiden deshalb solche Nahrungsmittel während der Cāturmāsya-Zeit.
Im ersten Monat verzichten Vaiṣṇavas auf Blattgemüse, im zweiten auf Joghurt, im dritten auf Milch und im vierten auf Senf und Sesam. In allen vier Monaten meiden sie außerdem Nahrung, die Leidenschaft verstärkt (wie Tomaten) oder sehr eiweißhaltig ist (wie Urad-Dahl).
Śrīla Gurudeva nahm sich die Anweisungen des Vaiṣṇavas zu Herzen und verabschiedete ihn, bevor er abreiste. Seine ganze Jugend hindurch folgte er strikt dem Cāturmāsya-Gelübde und verbrachte viel Zeit mit spirituellen Tätigkeiten. Seine Schulaufgaben und anderen Pflichten erledigte er rasch und mit Geschick, um die nötige Zeit dafür zu haben.