Gauḍīya-Vaiṣṇavas respektieren alle Inkarnationen des Höchsten Herrn Śrī Kṛṣṇa, einschließlich Śrī Rāma, Śrī Nṛsiṁha, Śrī Vāmana und Śrī Varāha, und würdigen Ihre Erscheinungstage. Nachdem Śrīla Gurudeva sich der Mission seines spirituellen Meisters angeschlossen hatte, ließ seine Liebe für Śrī Rāma und das Rāmāyaṇa nicht nach. Reine Gottgeweihte und die ewigen Gefährten Kṛṣṇas verspüren spontane Zuneigung zu allen Inkarnationen Kṛṣṇas.
Jedes Frühjahr zu Śrī Rāmas Erscheinungstag richtete Śrīla Gurudeva ein Fest in der Keśavajī Gauḍīya Maṭha aus. Er besuchte auch jedes Jahr die Rāma Pracāriṇī Sabhā, eine Zusammenkunft am Chowk Bazaar in Mathurā, in der gelehrten Paṇḍitas vor großer Zuhörerschaft über die Spiele und den Ruhm Śrī Rāmas sprachen.
Ein Jahr wurde Śrīla Gurudeva zu einer Konferenz mit mehreren Tausend Besuchern eingeladen. Während Śrīla Gurudeva unter den Gästen saß, sprach ein Paṇḍita über die Māyāvāda-Philosophie des absoluten Monismus, wobei er sich auf einen Vers aus dem Rāma Carita Manas berief. Er sagte:
„Sīyā rāma māyā saba jaga jāni, kara praṇāma juda juga pāṇi. Sītā-Rāma befinden sich überall. Alle Wesen sind Sītā-Rāma, und egal vor wem man sich verneigt, es ist das gleiche, wie sich vor Sītā-Rāma zu verneigen. Man sollte den Menschen dienen. Letztendlich wird man verwirklichen, dass man eins mit Gott ist, und am Ende des Lebens wird man in dasunpersönliche Brahman eingehen.“
Als Śrīla Gurudeva diese Rede hörte, wurde er zornig, dass im Mantel von Hingabe zu Śrī Rāma unpersönliche Philosophie propagiert wurde. Nach einer langen Ausführung über Māyāvāda-Philosophie, die mit dem Thema Śrī Rāma vermischt war, nahm der Paṇḍita wieder Platz. Śrīla Gurudeva setzte sich neben ihn und fragte: „Sie haben gesagt, dass jeder Sītā und Rāma ist. Dann ist ihre Frau Sītā und Sie sind Rāma?“
„Ja,“ bekräftigte der Paṇḍita mit Stolz und Überzeugung.
„Ist ihr Sohn auch Rāma und seine Frau ist auch Sītā?“ fragte Śrīla Gurudeva weiter.
„Ja.“
„Alles ist Sītā-Rāma?“
„Ja,“ antwortete der Paṇḍita, dem es langsam ungemütlich wurde.
„Sind Ziegen, Schweine und Hunde auch Sītā-Rāma?“
„Wie oft soll ich noch sagen, dass nichts verschieden von Sītā-Rāma ist? Alles ist eins.“
„Wenn ihre Schwiegertochter auch Sītā ist, verehren und verneigen sie sich täglich vor ihr?“, hakte Śrīla Gurudeva nach. „Verehren sie Śrī Rāma auch in der Form eines Hundes? Und wenn ein Dieb dasselbe wie Rāma ist, warum soll er dann bestraft werden? Müssen Sie den Dieb dann nicht verehren und auf den Altar setzen? Ist Rāmas treuer Diener Hanumān auch nicht von Rāma verschieden? Wenn alles und jeder Sītā-Rāma ist, wozu muss man dann ihre Namen chanten oder ihre Bildgestalt verehren?“
Der paṇḍita war sprachlos. Śrīla Gurudeva sagte mit Bestimmtheit: „Ihre Erklärung dieses Verses ist falsch. Siya rāma māyā saba jaga jani bedeutet nicht, dass alle eins sind.“
„Wenn Sie so weise sind, warum sprechen Sie dann nicht zur Zuhörerschaft?“ fragte der paṇḍita verärgert.
„Ja“, entgegnete Śrīla Gurudeva zu. „Das werde ich tun“.
Nach einigen weiteren Sprechern wurde Śrīla Gurudeva auf die Bühne gebeten. Er nahm seinen Platz ein und wandte sich mit wohlgewählten Worten an die Audienz. Er zitierte Tulasī Dāsas Vers siya rāma māyā saba jaga jani und erklärte dessen Bedeutung im Einzelnen. Śrīla Gurudeva sagte: „Der weit fortgeschrittene Geweihte des Herrn sieht Bhagavān überall:
mahā-bhāgavata dekhe sthāvara-jaṅgama
tāhāṅ tāhāṅ haya tāṅra śrī-kṛṣṇa-sphuraṇa
sthāvara-jaṅgama dekhe, nā dekhe tāra mūrti
sarvatra haya nija iṣṭa-deva-sphūrti
Caitanya Caritāmṛta, Madhya-Līlā 8.273–274
Wenn ein mahā-bhāgavata, ein weit fortgeschrittener Gottgeweihter, auf die sich bewegenden und nicht bewegenden Wesen blickt, so sieht er nicht ihre physische Form, sondern er sieht sie als eine Manifestation seines verehrenswerten Herrn, Śrī Kṛṣṇas, den er immerzu vor Augen hat.
Die Sicht eines reinen Gottgeweihten übersteigt die Bedeckungen des Geistes und der Materie im Bereich von māyā. Er sieht nur die Seele und die Höchste Seele. Dies heißt jedoch nicht, dass alles Gott gleichzusetzen ist.
Wenn ein Damm bricht und das Wasser über die Ufer strömt und das Land überschwemmt, kann man nur das Wasser sehen. Die Sträucher, Bäume und Häuser sind vom Wasser bedeckt, aber sie werden selbst dadurch nicht zu Wasser. Wenn jemand unablässig und mit Zuneigung in Sītā-Rāma vertieft ist, wird sich deren Liebe in sein Herz ergießen und ihn mit der Erinnerung an Sītā-Rāma überfluten (mayatva). Sie werden sein Bewusstsein vollständig einnehmen und er wird eins mit Ihnen im Herzen werden (tādātma). Außen und innen kann er dann nichts anderes als Bhagavāns Gnade und Seine Eigenschaften wahrnehmen.“
Śrīla Gurudeva fuhr fort: „Ein Eisenstab, der ins Feuer gelegt wird, beginnt zu glühen. Fasst man ihn an, wird man sich genauso die Hände verbrennen, als ob man direkt ins Feuer greift. Doch sobald er aus dem Feuer genommen wird und sich abkühlt, besitzt er nicht länger die Kraft des Feuers.
Es ist töricht, zu glauben, dass man Gott werden kann, oder dass man vergessen hat, man sei Gott. Viele behaupten, dass sich die Seele und Bhagavān nicht unterscheiden und dass die individuelle Seele, sobald sie ihre Unwissenheit aufgibt und dies verwirklicht, mit Bhagavān verschmelzen wird, so wie ein Tropfen Wasser mit dem Ozean verschmilzt. Diese Logik ist fehlerhaft. Die Seele ist qualitativ Bhagavān gleich, in dem Sinne, dass beide Bewusstsein besitzen, aber quantitativ verschieden von Ihm, denn Bhagavān ist der Höchste, der Gebieter über alle Füllen, unabhängig und sich über alles Existierende bewusst, während die Seele in ihrer Wahrnehmung begrenzt und immer einer höheren Kraft untergeordnet ist. Falls man einem randvollen Glas Wasser noch einen Tropfen hinzufügt, wird das Wasser überfließen. Der Tropfen verschmilzt also nicht mit dem Wasser, sondern bleibt getrennt.
Einheit schließt Individualität nicht aus. Wenn man von der Gesamtheit eines Landes wie beispielsweise Indiens spricht, schließt dies alle Städte, Dörfer, Gebäude, Menschen, Bäume und Tiere mit ein. Im Grunde gibt es unendlich viel Individualität in der einen Schöpfung. Das ist die Größe Bhagavāns.
Viele Punkte, zusammengefügt, bilden eine Linie. Die Linie ist die Gesamtsumme von Millionen Punkten, die alle individuelle Einheiten sind. In gleicher Weise ist Bhagavān einer, und alle Existenz und alles Leben ist aus Seiner göttlichen Kraft hervorgegangen. Śrī Kṛṣṇa sagt:
mattaḥ parataraṁ nānyat
kiñcid asti dhanañjaya
mayi sarvam idaṁ protaṁ
sūtre maṇi-gaṇā iva
Śrīmad Bhagavad-Gita 7.7
Oh Dhanañjaya, es gibt keine Wahrheit über Mir. Alles ruht auf Mir wie Perlen auf einer Schnur.
Nichts ist getrennt von Bhagavān. Er befindet sich überall ‒ aber nicht alles ist Gott. Einige sagen, dass man im Zustand der Unwissenheit Individualität wahrzunehmen glaubt, aber beim Erwachen wahren Wissens verwirklichen wird, dass alles eins ist. Wenn man in einem Flugzeug hoch über einer Stadt fliegt, kann man alle einzelnen Objekte nicht mehr unterscheiden und alles verschwimmt in einer Einheit. Nichtsdestoweniger behalten die Objekte aber ihre individuelle Existenz. Wer etwas anderes behauptet, dem fehlt die richtige Sicht. Ein vernünftiger Mensch, der einem Vogel zuschaut, der zu seinem Nest in den Bäumen fliegt und dann scheinbar mit den Bäumen verschmilzt, wird nicht behaupten, der Vogel sei mit dem Baum eins geworden, nur weil er ihn nicht mehr sehen kann.
Falls jemand zu Hanumān sagt: ‚Warum verehrst du Sītā-Rāma? Du bist von Sītā-Rāma nicht verschieden‘, wird Hanumān das gutheißen?“
Śrīla Gurudeva hob sein Arm und sprach mit donnernder Stimme: „Hanumān wird zu seiner Keule greifen und rufen: ‚Du behauptest, meine Sītā-Rāma zu sein? Ich werde dich testen!‘“. Gurudeva ließ Seine Faust niedersausen. „Hanumān wird solchen Halunken einen Kopf kürzer machen! Werden die Unpersönlichkeitsanhänger sich vor dem Zorn Hanumāns, ihres sogenannten Dieners, retten können, indem sie sich einbilden, nicht verschieden von Rāma zu sein?
sevya sevaka bhava vinuna bhava tariyā iha urugara
bhajiye rāma pāda paṇkaja saba kāja bisar
Gib alle anderen Pflichten auf und verehre einfach Śrī Rāmas Lotosfüße. Er ist ewig der Meister und ich bin ewig sein Diener.
Die Lebewesen sind Diener Bhagavāns. Sie sind sevaka, die Verehrer, und Bhagavān ist sevya, der Gegenstand ihrer Verehrung. Die Stimmung des Dieners ist es, die entwickelt werden muss. Wenn man meditiert, dass man selber Gott ist, wird man nur tiefer und tiefer in die Finsternis der Unwissenheit absinken. Einige Leute ziehen die Verehrung Śivas ins Lächerliche, indem sie erst chanten: ‚oṁ namo śivāya ‒ Ich verneige mich vor Śrī Śiva‘, aber später über erfundene Mantras wie ‚jīva śiva ‒ die Seele ist Śiva‘ oder ‚śivo’ham, śivo’ham ‒ Ich bin Śiva, Ich bin Śiva‘ meditieren. Solche schamlosen Halunken wird Pārvatī als Mātā Kali zu Rede stellen: ‚Gestern hast du gesagt, dass du mein Sohn bist, und jetzt willst du mein Mann sein?‘, und ihnen dann den Kopf vom Rumpf trennen.
Obwohl man Luft nicht sehen kann, umgibt sie uns überall. Ohne Luft können wir nicht leben. In gleicher Weise genauso können wir ohne Liebe zu Gott nicht einen Moment leben. Gott können wir durch Vertrauen und Hingabe erkennen, nicht durch mentale Spekulation oder indem wir uns einreden, Bhagavān zu sein.
Dies ist törichte Einbildung. Zu denken: ‚Ich kann tun, was ich will, und es ist trotzdem bhajana‘, wird nie als Verehrung Bhagavāns anerkannt. Bhajana bedeutet, Kṛṣṇa zu erfreuen. Zu denken, dass man Kṛṣṇa oder Rāma werden kann, ist dagegen ein ernstes Vergehen. Es ist überaus sündhaft, zu denken, dass man durch die Verehrung Bhagavāns seine Unwissenheit beseitigt und danach verwirklicht, Gott zu sein. Tulsī Dāsa schreibt:
bari mate boru haye ghṛt, sikhatate borute,
vinā hari bhajana na bhava tariyā ye siddhānta apil
Eher wird jemand Öl aus Sand pressen oder Butter aus Wasser kirnen, als sich ohne hari-bhajana aus dem Kreislauf von Geburt und Tod zu befreien. Dies ist die schlichte Wahrheit.
Sīyā rāma māyā saba jaga jāni bedeutet daher, Gott als allgegenwärtig zu kennen, Ihn zu verehren und sich vor Ihm als der in allen Wesen gegenwärtigen Höchsten Seele zu verneigen. Sobald wir versuchen, unsere ewige Verbindung mit Ihm zu verwirklichen, Ihn verehren und über Ihn zu meditieren, wird unsere seltene menschliche Geburt erfolgreich und wir können den Herrn erreichen und mit Ihm ewig in liebevollem Austausch zusammen sein.“
Als Śrīla Gurudeva seine Rede beendet hatte, applaudierte die Zuhörerschaft begeistert. Nachdem er sich gesetzt hatte, fragten ihn die Gelehrten: „Wir haben das Rāmāyaṇa noch nie so tief verstanden wie durch ihre Ausführungen heute. Wer sind sie?“
„Ich bin ein Diener Rāmas“, antwortete Śrīla Gurudeva.
„Sie verehren Kṛṣṇa, aber sprechen über die Herrlichkeit Śrī Rāmas. Wie geht das? Sie zitieren Tulsī Dāsa, aber wenn Tulsī Dāsa Kṛṣṇa treffen würde, würde er um darśaṇa von Śrī Rāma beten. Er hat keine Beziehung zu Kṛṣṇa.“
„Mein Kṛṣṇa ist absolut“, entgegnete Gurudeva. Manchmal erscheint Er und vollführt Spiele als Śrī Rāma, manchmal als Vāmana, Varāha oder andere Inkarnationen. Dergestalt ist Sein Ruhm und Seine Güte. Gottgeweihte verherrlichen alle Spiele Kṛṣṇas. In seinem Lied Jaya Jaya Deva Hare betet Jayadeva Gosvāmī: „Oh Śrī Kṛṣṇa, Du erscheinst in zehn Hauptinkarnationen. Ich bringe Dir Hunderte Ehrerbietungen dar.“ Der Gottgeweihte wird den Herrn in jeder Seiner Erscheinungen erkennen und verehren, geradeso wie ein Hund seinen Meister in jeder Kleidung erkennt.
Nach seinem Gespräch mit den Gelehrten kehrte Śrīla Gurudeva in die Keśavajī Gauḍīya Maṭha zurück. So diente er seinem spirituellen Meister, indem er die frevelhaften māyāvāda-Konzepte widerlegte und dem Ideal reiner bhakti Geltung verschaffte.