Ein Leser der Bhāgavat-Patrikā aus Tārā­gaḍha, Punjab, stellte am 29. April 1968 in einem Brief die Frage: „Im Śrīmad-Bhāgavatam, in der Beschrei­bung des rāsa-līlā heißt es, dass nach dem plötz­li­chen Ver­schwinden Śrī Kṛṣṇas die gopīs von Gedanken an Ihn über­wäl­tigt wurden. Sie gerieten in einen sol­chen emo­tio­nalen Zustand, dass sie die ganze Welt als von Kṛṣṇa durch­drungen sahen. In ihrem Gefühls­zu­stand der Nicht­un­ter­schei­dung begannen sie, ihr eigenes Selbst als Kṛṣṇa zu erfahren. Was bedeutet es hier, wenn die gopīs die ganze Welt als durch­drungen von Kṛṣṇa und sogar sich selbst als Kṛṣṇa erleben?“

Śrīla Guru­deva ant­wor­tete aus­führ­lich in der näch­sten Aus­gabe der Patrikā, mit vielen Zitaten aus Śrīla Jīva Gos­vā­mi­pādas und Śrīla Viś­vanātha Cakrav­artī Ṭhā­kuras Kom­men­taren zum Bhā­gavata. Zusam­men­ge­fasst schrieb Śrīla Gurudeva:

Sogar Brahmājī, der Stamm­vater und spi­ri­tu­elle Mei­ster des Uni­ver­sums, war nicht in der Lage, die eso­te­ri­schen Wahr­heiten der erha­benen Liebe zu ergründen, die aus der Wech­sel­be­zie­hung des Bewusst­seins und der Freu­den­energie der Abso­luten Wahr­heit her­vor­gehen. Die ewige Geliebte Kṛṣṇas, Śrī­matī Vṛṣabhānu-Nandinī Rād­hārāṇī, ist die Ver­kör­pe­rung spi­ri­tu­eller Ekstase und der Gipfel gött­li­cher Liebe. Die vraja-gopīs sind Erwei­te­rungen Ihrer per­sön­li­chen Form.

Als Brahmā begriff, dass er gänz­lich unqua­li­fi­ziert für die Barm­her­zig­keit der gopīs war, hielt er es für das Beste, in einer unbe­deu­tenden Lebens­form irgendwo in Vraja geboren zu werden, um den hei­ligen Fuß­staub der gopīs erlangen zu können.

tad bhūri-bhāgyam iha janma kim apy aṭa­vyāṁ
yad gokule ’pi katamāṅghri-rajo-’bhiṣekam
Śrīmad-Bhāgavatam 10.14.34

Mein größtes Glück wäre es, auf irgend­eine Weise in diesem Wald von Gokula geboren zu werden und meinen Kopf durch den Staub von den Lotus­füßen seiner Bewohner hei­ligen zu lassen.

Von anderen ganz zu schweigen, konnte selbst Śrī Uddha­vajī, der füh­rende Lehrer der Wis­sen­schaft des Abso­luten, den Śrī Kṛṣṇa mehr liebt als Brahmā, Śiva, Lakṣmījī, Balarā­majī und sogar Sein eigenes Leben, die Stel­lung der gopīs nicht voll­ständig ver­stehen, als er von Kṛṣṇa nach Vraja geschickt wurde. Beim Anblick der gopīs, deren gött­liche Form aus reiner Liebe zu Kṛṣṇa besteht, stand Uddhava am Ufer ihres uner­gründ­li­chen Ozeans der Liebe und betete, in Vraja als ein Gras­halm, ein Strauch oder eine Ranke geboren zu werden, um den Staub ihrer Füße zu erlangen.

āsām aho caraṇa-reṇu-juṣām ahaṁ syāṁ
vṛn­dā­vane kim api gulma-latauṣadhīnām
Śrīmad-Bhāgavatam 10.47.61

Mein auf­rich­tiges Gebet ist, dass ich in einem zukünf­tigen Leben unter den Büschen, Grä­sern oder Kräu­tern Vṛn­dā­vanas geboren werden und den Staub der Lotus­füße der gopīs emp­fangen möge.

Aus diesen Versen lässt sich schließen, dass die Stim­mung der gopīs für gewöhn­liche Men­schen nur sehr schwer annehmbar ist. Nur durch die Barm­her­zig­keit dieser gopīs (oder durch die Emp­fänger ihrer Barm­her­zig­keit, wie Śrī Rūpa, Sanātana, Jīva, Rag­hun­ātha und die anderen Gos­vāmīs) kann man in sie eindringen.

In den fünf rāsa-līlā-Kapi­teln des Śrīmad-Bhāgavatams wird das plötz­liche Ver­schwinden Kṛṣṇas und der nach­fol­gende Gefühls­zu­stand der gopīs, bei dem sie nicht mehr unter­schieden und sich völlig in Kṛṣṇa ver­tieften, detail­liert geschildert:

Als die gopīs sich an Kṛṣṇa erin­nerten, wurden ihre Herzen von Seinen Bewe­gungen und Seinem lie­be­vollen Lächeln über­wäl­tigt, von Seinen ver­spielten Blicken und bezau­bernden Worten und von den vielen anderen Ver­gnügen, die Er mit ihnen genoss. So in Gedanken an Ihn ver­tieft, begann die gopīs Seine ver­schie­denen tran­szen­den­talen Tätig­keiten aus­zu­leben. Weil die gopīs in Gedanken an ihren geliebten Kṛṣṇa ver­sunken waren, imi­tierten ihre Körper Seine Art, sich zu bewegen und zu lächeln, Seine Art, sie zu sehen, Seine Sprache und andere Beson­der­heiten. Tief ein­ge­taucht in Gedanken an Ihn und ver­rückt durch die Erin­ne­rung an Seine Spiele, erklärten sie ein­ander: „Ich bin Kṛṣṇa. (Śrīmad-Bhāgavatam 10.30.2–3)“

In der Erläu­te­rung zu diesem Vers heißt es: Die vraja-gopīs sind ewige Geliebte Kṛṣṇas. Sie sind keine gewöhn­li­chen Frauen. Sie sind keine Prak­ti­zie­renden (sādhakas), noch fallen sie in der Kate­gorie der Seelen, die durch Praxis Voll­kom­men­heit erreichten (sādhana-siddha). Sie gehören nicht einmal zu den ewig voll­kom­menen Seelen (nitya-siddha). Viel­mehr ist unter den gopīs Śrī­matī Rād­hi­kājī selbst die svarūpa-śakti, die ursprüng­liche Quelle aller Ener­gien Śrī Kṛṣṇas, und die vraja-gopīs sind Erwei­te­rungen von Śrī­matī Rād­hikās eigener tran­szen­den­taler Form. Sie sind ewige Geliebte Kṛṣṇas und werden es für alle Zeiten sein. Zusammen mit Śrī Kṛṣṇa erscheinen sie in der mate­ri­ellen Schöp­fung und gehen mit Ihm wieder fort.

Nachdem ihr Lieb­ster sie wäh­rend des Rāsa Tanzes plötz­lich ver­ließ, wurden die ewigen Geliebten Kṛṣṇas vor Tren­nungs­schmerz wie wahn­sinnig. Erfüllt von Erin­ne­rung an den anmu­tigen Gang ihres Geliebten, Sein süßes, lie­be­volles Lächeln, Seine Sei­ten­blicke, Seine bezau­bernden, lie­be­vollen Gespräche, Seine viel­fäl­tigen Spiele, Gesten und amou­rösen Stim­mungen, ver­gaßen die gopīs völlig ihren eigenen Körper. Ver­sunken in Kṛṣṇa, begannen sie Ihn überall zu sehen.

Hier werden die gopīs als kṛṣṇa­maya beschrieben. Als die gopīs in Gedanken an Kṛṣṇa ver­sunken waren, erwachten in ihnen eksta­ti­sche Gefühle, wo immer sie hin­schauten. Der Blick auf die Yamunā weckte Erin­ne­rungen, wie Kṛṣṇa mit ihnen in ihrem Wasser umher­ge­tollt war. Seine Fuß­ab­drücke an den Ufern der Yamunā, in den Gärten, Hainen und Wein­lauben, erin­nerten sie an bezau­bernde Augen­blicke mit Ihm. Sie erreichten dann den Höhe­punkt des Wahn­sinns in Tren­nung. Aho! Von über­allher strömten Erin­ne­rungen auf sie ein. Es gab keinen Baum in Vraja, unter dem Kṛṣṇa nicht in Seiner char­manten drei­fach geschwun­genen Hal­tung gestanden und Seine Muralī-Flöte gespielt hatte; keinen See, in dem Kṛṣṇa nicht mit ihnen gebadet; keine Ranke, mit deren Blumen und Knospen sich Kṛṣṇa nicht geschmückt hatte. Sie sahen die anmu­tige Schön­heit Kṛṣṇas im Mond, Sein Lächeln in den Blumen und sie hörten Seine süße Stimme im Gesang der Kuckucke. Alles, was sie in Vraja sahen, ver­stärkte ihre Erin­ne­rungen an Kṛṣṇa noch mehr. Als sie auf diese Weise an Ihn dachten, wurden sie so über­wäl­tigt, dass sie überall Visionen von Ihm hatten, im Innern wie im Äußeren. Sie ver­gaßen nicht nur die Welt um sich herum, son­dern sogar ihren eigenen Körper und wurden völlig in Kṛṣṇa vertieft.

Einige Leute inter­pre­tieren diesen Vers falsch und ver­su­chen zu beweisen, dass das Śrīmad-Bhāgavatam eine unper­sön­liche Voll­kom­men­heit oder das Ver­schmelzen mit dem Brahman, frei von allen Eigen­schaften, als höchste Wahr­heit lehrt. Nach ihrer Ansicht werden Men­schen, die wie die gopīs über Brahma medi­tieren, mit der all­durch­drin­genden Tran­szen­denz eins werden.

Unsere ācāryas haben diese These wider­legt und beschrieben, dass der Zustand der gopīs, voll­ständig in Kṛṣṇa ver­tieft zu sein, Kṛṣṇa überall zu sehen oder mit Ihm eins zu sein, eine beson­dere Stim­mung ist, die sich nur im Zustand von anub­hāva, einer tiefen Ekstase der Liebe, mani­fe­stiert. Der unbe­streit­bare Beweis, dass es nicht einen Hauch von Unper­sön­lich­keit in dem Ver­tieft­sein der gopīs gibt, ist, dass sie nie ihren per­sön­li­chen Cha­rakter, ihre Stim­mung oder ihre Gestalt ver­loren. Die gopīs, die sagten, „Ich bin Kṛṣṇa“, sahen die andere gopīs als ver­schieden von sich selbst. Wenn sie sich voll­ständig als nicht ver­schieden von­ein­ander erfahren hätten, dann hätten sie weder Kṛṣṇas Spiele nach­ahmen, noch sich so mit­ein­ander unter­halten können, wie sie es taten. Unper­sön­liche Befreiung impli­ziert ein unun­ter­bro­chenes Ver­schmelzen mit dem ver­eh­rungs­wür­digen Objekt. Als jedoch die Inten­sität des Ver­tiefts­eins der gopīs nach­ließ, begannen sie wieder in Tren­nung von Kṛṣṇa zu klagen und ver­loren die Auf­fas­sung, Kṛṣṇa zu sein.

In unper­sön­li­cher Befreiung kann keine Dua­lität wahr­ge­nommen werden. Doch die gopīs, die in Gedanken an Kṛṣṇa ver­sunken war, sahen die Pflanzen, Ranken und Bäume Vṛn­dā­vanas, die Hügel, Berge und Flüsse sowie viele ver­schie­dene Lebe­wesen. Das unper­sön­liche nicht-duale Brahma ist frei von allen Eigen­schaften. Es besitzt keine Wün­sche und ist unver­än­der­lich. Aber als die gopīs ver­tieft waren, zeigten sie Gefühle von Eifer­sucht, Schutz­be­dürfnis und Furcht. Daher ist nicht einmal ein Schimmer von Unper­sön­lich­keit in der Absorp­tion der gopīs vor­stellbar. Die Gefühle und Schluss­fol­ge­rungen der Māy­ā­vādīs sind nur törichter Starr­sinn. Bis heute hat kein ein­ziges Lebe­wesen seine indi­vi­du­elle Exi­stenz ver­loren, indem es mit diesem ima­gi­nären unper­sön­li­chen Brahma ver­schmolz. Nir­gendwo exi­stiert ein Bei­spiel dafür. Das Gefühl der Ein­heit mit Kṛṣṇa ist eine beson­dere Stufe inten­siver Liebe und kein Beweis für das Ver­schmelzen mit der unper­sön­li­chen Tran­szen­denz. Die gopīs blieben gopīs. Auf­grund tiefer Liebe waren sie für kurze Zeit völlig in Kṛṣṇa ver­tieft, aber ihre Form ver­än­derte sich nicht und ver­schmolz auch nicht mit Seiner.

Sri Guru-Darsana

Mail-Service