Nach seinem Aufenthalt bei Śrīla Bhaktivedānta Svāmī Mahārāja in Delhi und dem Treffen mit ihm in Vṛndāvana empfand Gurudeva einen großen Wunsch, bhajana in Govardhana auszuführen. Er dachte über den neunten Vers in Rūpa Gosvāmīs Upadeśāmṛta nach:
vaikuṇṭhāj janito varā madhu-purī tatrāpi rāsotsavād
vṛndāraṇyam udāra-pāṇi-ramaṇāt tatrāpi govardhanaḥ
rādhā-kuṇḍam ihāpi gokula-pateḥ premāmṛtāplāvanāt
kuryād asya virājato giri-taṭe sevāṁ vivekī na kaḥ
Weil Śrī Kṛṣṇas dort geboren wurde, ist das Land von Mathurā sogar Vaikuṇṭha, dem Reich spirituellen Reichtums, überlegen. Mathurā übergeordnet ist der Wald von Vṛndāvana, denn dort fand das rāsa-Fest statt. Als höher als der Wald von Vṛndāvana gilt der Govardhana-Hügel, denn Kṛṣṇa hob ihn mit seiner Lotushand empor und genoss dort viele Spiele mit seinen Geliebten. Und als noch höher als der Govardhana-Hügel wird Śrī Rādhā-Kuṇḍa angesehen, weil er einen in den Nektar der göttlichen Liebe Kṛṣṇas taucht. Welcher intelligente Mensch würde sich nicht wünschen, diesem herrlichen See zu dienen, der am Fuße des Govardhana-Hügels erstrahlt?
Śrīla Gurudeva las die Kommentare der Gauḍīya-ācāryas, in denen es hieß: „Wer wird so töricht sein, Rādhā-Kuṇḍa und Govardhana zu verlassen, um anderswo zu leben?“ Die Gosvāmīs besuchten manchmal Mathurā, aber sie wohnten in Vṛndāvana, Govardhana oder Rādhā-Kuṇḍa. Er dachte: „Die vedischen Schriften erklären, dass alle Vergehen, Sünden und materielle Wünsche aus Millionen von Leben ausgelöscht werden, wenn man sich nur drei Nächte in Mathurā aufhält. Selbst wenn man Vergehen begeht, während man in Mathurā lebt, wird man von allen Sünden frei, sobald man Mathurā nur einmal umkreist. Aber um reine Liebe für Kṛṣṇa zu erlangen, wird Mathurā Devī uns zuerst läutern und dann zu Yamunādevī senden. Yamunādevī gibt uns die Qualifikation, Vṛndāvana zu betreten und reicht uns weiter an Vṛndādevī, die uns schult und an Girirāja Govardhana weiterleitet, der uns wiederum zum Rādhā-Kuṇḍa bringt. Als Kṛṣṇa in Sein ewiges Reich zurückkehrte, ließ Er Seinen geliebten Girirāja Govardhana und Yamunā zurück. Ich werde zu Yamunādevī gehen und sie um Rat bitten, ob ich einige Zeit in Govardhana bleiben soll oder nicht. Sie wird mich gütigerweise im richtigen Handeln anleiten.“
Śrīla Gurudeva betete zu Yamunā Devī und erhielt die Inspiration, sofort nach Govardhana aufzubrechen. Er beschloss, „Ich werde in Govardhana wohnen und jeden Tag auf parikramā gehen.“ Dann überlegte er: „Was kann ich Girirāja anbieten? Ich habe kein Geld für eine üppige Verehrung.“ Er entschied: „Nichts stellt Girirāja mehr zufrieden, als über den Ruhm Kṛṣṇas und der Vrajavāsīs zu hören. Ich werde täglich am Fuße des Govardhana das Śrīmad Bhāgavatam vortragen. Nach dem parikramā werde ich Almosen erbitten und alles, was mir gegeben wird, Girirāja darbringen.“
Nachdem er die Verantwortung für die Leitung der Keśavajī Gauḍīya Maṭha Kuñja Bihārī Prabhu übertragen und ihn informiert hatte, dass er vor Kārttika aus Govardhana zurückzukehren würde, ging Gurudeva. Er trug nur japa-mālā, sannyāsa-Tuch, Wassertopf und das Śrīmad Bhāgavatam bei sich. In Govardhana wohnte Śrīla Gurudeva im Dāna Bihārī-Garten Bābū Lāl Śāstrīs ‒ dort, wo sich heute die Giridhāri Gauḍīya Maṭha befindet. Bābū Lāl Śāstrī hatte Jagad-Guru Śrīla Prabhupāda und Ācārya Kesarī getroffen und ihnen gedient. Er war Gurudeva zugetan und ließ ihn gern unentgeltlich im oberen Zimmer seines Gartenhauses wohnen. Nach seinem täglichen Girirāja-parikramā, seiner festgesetzten Anzahl von Runden harināma und dem Lesen des Śrīmad Bhāgavatams besuchte Gurudeva abends Bābū Lāl Śāstrīs Söhne Madana-Mohana und Dr. Goloka und sie boten ihm roṭīs und Buttermilch als Almosen an.
Während des parikramās stoppte Śrīla Gurudeva an wichtigen Schauplätzen von Krsnas Spielen am Govardhana, wie Ratna Siṁhāsana und Ratna-Vedī, und rezitierte Verse aus dem Vilāpa-Kusumāñjali, Stava-Mālā, Stavāvalī und Rādhā-Rasa-Sudhā-Nidhi. Dann chantete er zur Freude Girirājas einen Canto des Śrīmad Bhāgavatams. Innerlich diente Gurudeva während der acht Tagesabschnitte stetig Śrī Śrī Rādhā-Kṛṣṇa.
Śrīla Gurudeva unterhielt keine Beziehung zu irgendetwas in dieser Welt, noch hegte er Wünsche nach schmackhaftem Essen, Besitz oder Geld. Sein Bewusstsein war nicht auf der materiellen Ebene, er war absorbiert in seinen spirituellen Dienst in der transzendenten Welt. Für gewöhnlich können die Leute diese besondere Natur der sādhus nicht nachvollziehen. Sie denken: „Sādhus arbeiten nicht. Sie verschwenden sinnlos ihr Leben. Sie essen und schlafen nur und laufen ihren Fantasievorstellungen nach.“ Derweil denken die sādhus: „Materialisten sind nicht intelligent. Sie verlieren ihre Zeit mit weltlicher Arbeit für vergängliche Ergebnisse und ignorieren ihren bevorstehenden Tod. Sie wachsen mit dem Glauben auf: ‚Mein Vater arbeitet, ich werde arbeiten. Mein Vater heiratet, ich werde heiraten.‘ So folgen sie der Kultur der Illusion.“ Im liebenden Dienst zum Göttlichen Paar vertieft, stand Śrīla Gurudeva völlig über dem Einflusses māyās.
Es war Monsunzeit, als sich Śrīla Gurudeva in Govardhana aufhielt. Obwohl strömender Regen die Wege überschwemmte und schlammig machte, führte Gurudeva seinen täglichen parikramā fort. Die Mānasi Gaṅgā überflutete die Straße. Diese Straße wurde später drei Meter höhergelegt, doch zu jener Zeit kam es nach starkem Regen regelmäßig zu Überschwemmungen. Als sich Passanten der Mānasi Gaṅgā näherten, wurde klar, dass man entlang der Straße schwimmen musste. Unbeirrt begab sich Gurudeva sportlich in die überflutete Straße, und nachdem er den Orientierungspunkt Cakleśvara Mahādeva passiert hatte, konnte er zu festem Boden waten. Die Straße beim Rādhā-Kuṇḍa war ebenfalls überflutet und Śrīla Gurudeva musste auch dort waten. Manchmal sah er Schlangen und andere Tiere vorbeitreiben, aber er ließ sich nicht aufhalten.
Eines Tages, als Śrīla Gurudeva die überflutete Straße an der Mānasi Gaṅgā durchquerte, sah er zwei außergewöhnlich schöne Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, die an einer erhöhten Stelle standen und vor Kälte zitterten. Der Junge sagte: „Hast du kein Mitleid? Wir haben nichts Warmes zum Anziehen. Wir frieren und überall steht Wasser. Du kümmerst dich überhaupt nicht um uns. Warum tust du nichts? Bist du herzlos? Bei so stürmischem Wetter kann man nicht einmal den Weg sehen. Glaubst du, dass Bhagavān mit diesem sādhana von dir zufrieden sein wird? Du praktizierst Entsagungen, aber du denkst nicht an uns. Wir leiden. Dein Guru Mahārāja hat uns dir gegeben. Jetzt bist du hier, also sind wir dir nachgelaufen.“
„Was reden sie da?“, wunderte sich Śrīla Gurudeva. „Wie konnten diese Kinder im Regen und in so tiefem Wasser auf parikramā gehen? Wer sind sie?“
Gurudeva konnte durch die überfluteten Gebiete schwimmen, aber wie waren kleine Kinder durch das tiefe Wasser gelangt? Gurudeva antwortete nicht. Er ging vorüber und sang weiter harināma. Nachdem er Uddhava Kuṇḍa erreicht hatte, konnte Gurudeva die beiden schönen Kinder nicht mehr sehen, aber ihr Bild hatte einen bleibenden Eindruck in seinem Herzen hinterlassen. Als er später an diesem Tag das Śrīmad Bhāgavatam las, kamen die gleichen Kinder und standen im nassen Kleidern in der Nähe, beobachteten ihn einige Zeit und gingen dann. Später kam ein Mann zu dem Haus, in dem Śrīla Gurudeva wohnte, um Kinderkleidung zu verteilen.
„Oh Mahārāja“, sagte er, „wollen Sie etwas Kleidung?“
„Ich bin ein sannyāsī. Was soll ich mit Kinderkleidung?“
„Sie haben einen kleinen Jungen und ein Mädchen in Ihrer Obhut. Bitte nehmen Sie diese Kleider und geben Sie sie ihnen.“
„Wie könnte ich Kinder haben?“
Ungeachtet Gurudevas Verwirrung legte der Mann ein Bündel Kleider ab und ging. Am nächsten Tag, als Śrīla Gurudeva einen Canto des Śrīmad Bhāgavatams am Fuße Girirāja Govardhanas rezitiert hatte, begann er, seine gāyatrī-Mantras zu chanten. Wieder kamen die beiden Kinder und beobachteten Gurudeva aus der Ferne ‒ diesmal allerdings trugen sie die Kleider, die der Mann bei ihm gelassen hatte. Gurudeva war überrascht. In jenen Tagen ging kaum jemand auf Govardhana-parikramā, erst recht keine Kinder, denn die Straße war gefährlich und Räuber machten die Wege unsicher.
Śrīla Gurudeva nahm nur so viel Almosen an, wie er für den Tag benötigte. Was er erhielt, brachte er Girirāja dar. Eines Tages, als er während der Opferung meditierte, sah Gurudeva dieselben beiden Kinder, wie sie kamen und hungrig das Essen verschlangen.
Ein paar Tage vergingen ohne Zwischenfälle. Dann kam Anfang Oktober Ācārya Kesarī aus Navadvīpa nach Mathurā. Ein brahmacārī wurde geschickt, um Śrīla Gurudeva zu benachrichtigen, der sofort zur Śrī Keśavajī Gauḍīya Maṭha zurückkehrte. Er traf in Mathurā am Vormittag ein und verneigte sich vor Ācārya Kesarī. Meister und Schüler umarmten sich und weinten, als ob seit ihrer letzten Begegnung viele Jahre vergangen wären.
„Was hast du in Govardhana gemacht?“, fragte Ācārya Kesarī. „Warum hast du Śrī Śrī Rādhā-Vinoda Bihārī verlassen? Das Dach hat Risse und Regenwasser ist auf Ṭhākurajī gelaufen. Der pūjārī hat viele Tage lang Ihre Kleider nicht gewechselt und keine richtigen Opferungen dargebracht. Ṭhākurajī ist kein Stein! Sie sind nach Navadvīpa gekommen und haben mich gerufen, um einzuschreiten. Du musst für Rādhā-Vinoda Bihārī immer liebevoll sorgen, so wie ein Vater für seine Kinder. Wenn Ṭhākurajī mit deinem Dienst unzufrieden ist, kann niemand im Tempel glücklich sein. Bevor du irgendwohin gehst, musst du dich vergewissern, dass Ihre richtige Verehrung sichergestellt ist.“
Śrīla Gurudeva akzeptierte die Anweisung seines spirituellen Meisters demütig und mit gefalteten Händen. Ācārya Kesarī nahm Gurudeva dann mit auf sein Zimmer und sprach privat mit ihm. Er stellte Gurudeva vertrauliche Fragen zu seinem bhajana und war mit den Antworten zufrieden. Ācārya Kesarī sagte: „Ich habe viele Schüler, aber niemand zeigt so viel Begierde wie du, die erhabenen Stimmungen der Vrajadevīs zu verwirklichen. Śrīla Prabhupāda bemühte sich unermüdlich, die Basis für reine Hingabe zu etablieren und die Unkräuter des māyāvāda und Sahajiyismus auszumerzen. Auch ich viel Zeit damit zugebracht, die māyāvāda-Lehre und die apasampradāyas zu bekämpfen, die den reinen Bhakti-Yoga-Strom beschmutzen. Ziel dieses Predigens aber ist es, den einzigartigen Ruhm Śrīmatī Rādhārāṇīs und ihrer Erweiterungen, der unzähligen gopīs, zu verbreiten. Ich wünsche mir, dass du den Ruhm Śrīmatī Rādhārāṇīs und der Vrajadevīs überall bekannt machst. Ohne dich besteht die Gefahr, dass dieser göttliche Nektar und diese Botschaft verloren gehen. Predige deshalb beherzt die Wahrheiten reiner Liebe und Hingabe. Lass die ganze Welt gegen dich sein, aber halte an vraja-kathā fest. Dann wirst du alle Hindernisse überwinden.“
Śrīla Gurudeva fiel bei den Lotusfüßen seines göttlichen Meisters nieder und dieser erteilte ihm von Herzen seinen Segen.