Der Weg zum höchsten Ziel
Als sie zur Devānanda Gauḍīya Maṭha zurückkehrten, nahm Śrīla Bhaktiprajñāna Keśava Gosvāmī Mahārāja Śrīla Gurudeva mit in sein Zimmer und bot ihm zuneigungsvoll mahā-prasāda an. Nach dem Frühstück setzte sich Gurudeva zu Füßen Ācārya Kesarīs und fragte ihn in ergebener Haltung: „Guru Mahārāja, bitte unterweise mich. Was ist das Ziel des Lebens und wie kann ich es erreichen?“
„Reine Liebe zu Kṛṣṇa ist das höchste Ziel des Lebens“, antwortete Ācārya Kesarī, „und reiner hingebungsvoller Dienst ist das Mittel, diese Liebe zu erwecken. ‚Ich bin Kṛṣṇas Diener und Er ist mein ewiger Geliebter‘ – das ist die reine Gesinnung der Seele. Im materiell-bedingten Zustand haben die Eigenschaften māyās, der illusionierenden Energie, eine berauschende Wirkung auf jedes Lebewesen, das sich von Kṛṣṇa abgewandt hat. Dies führt dazu, dass man den Körper für sein eigenes Selbst hält, dass man denkt: ‚Ich und die Menschen und Dinge, die in Beziehung zu meinem Körper stehen, sind mein.‘ Folglich glaubt das Lebewesen, dass es das höchste Ziel des Lebens sei, seinen zeitweiligen materiellen Körper zu erhalten. Der natürliche Zustand des Wassers besteht darin, flüssig zu sein, aber aufgrund äußerer Umstände verfestigt es sich und wird zu Eis. Eis ist ein zeitweiliger Zustand des Wassers. Sobald das Wasser wieder seine natürliche Temperatur erlangt, verflüssigt es sich wieder. In ähnlicher Weise sind die Lebewesen in dieser materiellen Welt, die ihre wesenseigene Natur (dharma) als liebende Diener Kṛṣṇas vergessen haben, in Tätigkeiten vertieft, die ihrem vergänglichen Körper und Sinnen Freude schenken sollen. Sie kennen nicht ihre spirituelle Natur, ihr ewiges dharma. Selbst jemand, der sich unzählige Leben Entsagung und spiritueller Praxis widmet, muss immer das wahre Ziel im Auge behalten, denn sonst werden seine Tätigkeiten wieder zu materiellen Beschäftigungen führen.
Das Lebewesen, das seine Seele mit spiritueller Nahrung nährt, wird seine Beziehung zu Kṛṣṇa verwirklichen und damit von māyā und der Anhaftung an den physischen und psychischen Körper frei. Die spirituelle Nahrung wird hingebungsvoller Dienst, bhakti-yoga, genannt, wenn man diesen Dienst mit der Absicht ausführt, eine spirituelle Form als liebender Diener Kṛṣṇas zu erlangen. Falls jemand Kṛṣṇa verehrt, aber andere Motive beibehält, die nicht darauf abzielen, Kṛṣṇas Diener zu werden, sind diese Bemühungen sinnlos. Genausogut kann man Zucker in den Ozean rühren, Benzin mit Parfüm versetzen oder einen toten Körper schmücken. Weltliche Menschen denken, dass ihre Seele und der Höchste Herr, Bhagavān, glücklich werden, wenn der materielle Körper gesund und die Sinne zufrieden sind. Sie verstehen nicht, dass der Wunsch nach sinnlicher Freude die Ursache ihres Leids in der materiellen Knechtschaft ist.
Der Wunsch, Kṛṣṇa unter der Anleitung Seiner ewigen geliebten Gefährten und Gefährtinnen in Vraja zu dienen, wird erwachen, wenn man hari-kathā mit Vertrauen hört. Die spirituelle Form der Seele wird dadurch aufblühen. Jede Seele hat ihre einzigartige Individualität, die nicht durch Gemeinschaft beeinflusst werden kann. Verschiedenartige Samen, die in die gleiche Erde gesät und mit dem gleichen Wasser, der gleichen Luft und dem gleichen Licht aufgezogen werden, wachsen zu verschiedenartige Pflanzen heran, selbst wenn alle Umstände bei der Aufzucht gleich waren. Die ewige Identität jeder Seele ist einzigartig, mit einer eigenen Gestalt und eigenen Stimmungen im Dienst zu Kṛṣṇa. Es gibt fünf grundlegende Stimmungen (rasas), die die Seele in Beziehung zu Kṛṣṇa kosten kann: Neutralität, Dienertum, Freundschaft, elterliche Zuneigung und eheliche Liebe. Von allen rasas ist die Stimmung, Kṛṣṇa als Geliebtem zu dienen, die beste.
Wenn du alle diese spirituellen Wahrheiten tiefgründig verstehen willst“, sagte Ācārya Kesarī, „solltest du das Buch Jaiva Dharma lesen. Bhaktivinoda Ṭhākura sammelte die Essenz aller Vedischen Schriften und verfasste das Jaiva Dharma in Form einer bündigen und leichtverständlichen Erzählung.“ Ācārya Kesarī nahm ein Jaiva Dharma aus seinem Bücherregal und legte es in Gurudevas Hände. Dann sagte er: „Die Absolute Wahrheit und Wirklichkeit, das Ziel des Lebens, der Vorgang, dieses zu erreichen, und der Weg, nach Vraja zu gelangen, dem Reich Śrī Kṛṣṇa und Seiner geliebten Gefährten – all das wird in diesem monumentalen Werk beschrieben.“
„Auf welche Weise soll ich es lesen?“, fragte Śrīla Gurudeva. „Ohne Barmherzigkeit kann die spirituelle Wahrheit nicht verstanden werden.“
„Du musst einen tiefen Wunsch haben, es zu verstehen, und während du liest, aus dem Innersten deines Herzens zu den heiligen Persönlichkeiten im Text beten. Verwirklichung wird sich nicht einstellen, indem man nur liest oder hört. Du musst die Wahrheiten verinnerlichen und in deinem Leben anwenden. Dies wird die Barmherzigkeit Kṛṣṇas und Seiner Geweihten anziehen. Wenn du eine stetige Hingabe zu Ihm aufbringst, wird Kṛṣṇa deinen Dienst annehmen und dir Seine Barmherzigkeit gewähren. Dann wirst du diese spirituellen Wahrheiten verwirklichen.“
„Ein Kind ist demütig und seiner Mutter ergeben“, wandte Śrīla Gurudeva ein, „aber wenn es erwachsen wird und zu Wissen kommt, macht es sich unabhängig und entfernt sich. Wie kann ich immer bei Guru und Vaiṣṇavas bleiben und nicht auf das erworbene Wissen der Schriften stolz werden?“
„Unabhängiges Studieren der Schriften erzeugt sicherlich Überheblichkeit und entfernt einen von den Vaiṣṇavas“, antwortete Ācārya Kesarī, „die Gelehrtheit aber, die man unter der Führung der Vaiṣṇavas erlangt, bringt uns einer spirituellen Beziehung zu Kṛṣṇa und Seinen Geweihten näher. Wenn du dich den Vaiṣṇavas ergibst und unter ihrer Anleitung und Obhut bleibst, wirst du deine Anhaftung an den Körper aufgeben und die Natur der Seele verwirklichen. Auf diese Weise wirst du ein Bruchteil von Kṛṣṇas unbegrenzten Ruhm ermessen können und deine eigene unbedeutende Stellung im Vergleich dazu verstehen. So bleibst du demütig und bescheiden. Du wirst stolz, wenn du Wissen ansammelst, ohne die Lehren der Schriften in deinem Leben anzuwenden. Daher ist es unumgänglich, nicht nur große Predigten zu halten, sondern vor allem auch selbst zu praktizieren.“
Śrīla Gurudeva war begierig, das Jaiva Dharma zu lesen. Das Buch war in bengalischer Sprache, die Gurudeva nur mäßig beherrschte, also widmete er sich neben dem Lesen des Jaiva Dharmas auch dem Studieren der Sprache. Schnell lernte er, die Unterschiede im Verständnis des Hindi und des Bengalischen zu meistern. Wenn er sich dabei nicht sicher war, fragte er Ācārya Kesarī und andere Bewohner des Tempels. Nachdem er das dritte Kapitel gelesen hatte, kam er zu Ācārya Kesarī und fragte demütig: „Guru Mahārāja, im Jaiva Dharma erhält Sannyāsī Ṭhākura eine Vision des transzendentalen Māyāpuras und Navadvīpa-Dhāmas. Wie kann auch ich auch mit solchem Glück gesegnet werden? Ich vermag überall nur weltliche Dinge zu sehen.“
„Bleibe immer bei den Vaiṣṇavas, die eine enge Beziehung zum dhāma besitzen, behalte stets eine demütige Haltung des Gebetes bei und sei allzeit bereit, zu dienen. Dann wird dir mit der Zeit alles offenbart.“
„Wie kann ich in bhakti fortschreiten?“, fragte Gurudeva weiter. „Welche Arten von bhakti sind wichtig für mich, zu praktizieren?“
„Das Wichtigste bei der bhakti-Praxis ist sādhu-saṅga, die Gemeinschaft mit heiligen Persönlichkeiten. Der Guru ist ein sādhu, ein reiner Heiliger. Deshalb beginnt die Liste der verschiedenen Arten der bhakti-Praxis damit, dass man die Zuflucht eines echten Gurus annehmen muss. Du solltest daher Einweihung von einem qualifizierten spirituellen Meister annehmen und seine Anweisung und seinem Vorbild der Hingabe folgen.“
guru-pādāśraya dīkṣā gurura sevana
sad-dharma-śikṣā‑pṛcchā sādhu-mārgānugamana
Śrī Caitanya-Caritāmṛta, Madhya-Līlā 22.115
Auf dem bhakti-Pfad muss man: (1) einen echten Guru annehmen; (2) sich von ihm einweihen lassen; (3) ihm dienen; (4) Anweisungen von ihm erhalten und ihn über hingebungsvollen Dienst befragen; und (5) dem Beispiel der vorangegangenen ācāryas sowie den Anweisungen des spirituellen Meisters folgen.
Ācārya Kesarī fuhr fort: „Der Guru gibt seine Schüler in die Obhut von Vaiṣṇavas, die fortgeschrittener sind als die Schüler selber, die die gleiche Stimmung besitzen und ihnen zugeneigt sind. Die sādhakas (Praktizierenden) sollten im dhāma wohnen, hari-kathā hören, die Bildgestalt verehren und den Heiligen Namen chanten. Das Chanten der Heiligen Namen (harināma) ist die wichtigste der verschiedenen Praktiken von bhakti. Śrīla Sanātana Gosvāmī erklärt im Bṛhad-Bhāgavatāmṛta (2.3.158):
kṛṣṇasya nānā-vidha-kīrtaneṣu
tan-nāma-saṅkīrtanam eva mukhyam
tat-prema-sampaj-janane svayaṁ drāk
śaktaṁ tataḥ śreṣṭhatamaṁ mataṁ tat
Unter den vielen Arten der Verehrung Kṛṣṇas ist das gemeinsame Chanten Seiner Heiligen Namen die beste, denn solches Chanten hat die Kraft, augenblicklich den Schatz reiner Liebe zu schenken.
„Kṛṣṇa besitzt viele Namen”, erklärte Ācārya Kesarī. Einige sind zweitrangig, wie Jagannātha oder Nārāyaṇa, weil sie sich auf die materielle Welt beziehen. Die Namen Kṛṣṇas hingegen, die sich auf das transzendentale Reich von Vraja beziehen, Gopī-Jana-Vallabha, Rādhā-Ramaṇa, Gopīnātha oder Yaśodā-Nandana werden als Seine Hauptnamen bezeichnet, weil Sie den Reichtum reiner Liebe gewähren. Du sollst die Namen Kṛṣṇas chanten, die auch die vraja-devīs, die Mädchen von Vraja, singen, wenn sie sich nach Kṛṣṇa sehnen. Du findest sie in vielen der Lieder unserer ācāryas. Vor allem solltest du unablässig den hare-kṛṣṇa-mahā-mantra chanten, der aus acht Paaren von Namen besteht und der die Gefühle des Zusammenseins wie auch der Trennung vom Göttlichen Paar Śrī Śrī Rādhā-Kṛṣṇa beinhaltet. Durch die stetige Praxis des Chantens des mahā-mantras wird dir bald alle Vollkommenheit zuteil.“